von Lena Dunkelmann (Universität Koblenz)

Am 19. Oktober wurde der zweite Liebesbriefstammtisch zum Thema Liebeslyrik und lyrische Liebesbriefe sowohl in Darmstadt als auch in Koblenz veranstaltet. Das Lesen von und die inhaltliche Besprechung der Liebesbriefe stellt eine Möglichkeit von vielen dar, sich im Citizen-Science-Projekt Gruß & Kuss zu beteiligen.

Während in Darmstadt bereits im August der erste Liebesbriefstammtisch zum Thema Kosenamen stattgefunden hat, war das Ausrichten des Liebesbriefstammtisches für Koblenz eine Premiere. Voll Neugierde und Interesse durch den Input der Langen Nacht der Liebesbriefe haben sich in Koblenz einige Liebesbriefforscher*innen zusammengefunden, um sich der inhaltlichen Besprechung und Erschließung der lyrischen Liebesbriefe zu widmen.

Bürgerwissenschaftler*innen sitzen mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin in einem Café an einem Tisch und lesen Liebesbriefe.
Der Koblenzer Liebesbriefstammtisch im Lokal ‚Kleiner Riese‘. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv

Ziel dieses Liebesbriefstammtischs war es, sich die lyrischen Liebesbriefe aus dem Liebesbriefarchiv in Hinblick auf die Form, Motivik und Motivation genauer anzuschauen und sie mit den Liebesgedichten bekannter Autor*innen zu vergleichen. Die Ergebnisse und Erkenntnisse des Abends werden in diesem Blogartikel dargestellt.

Was ist Lyrik?

Bevor man sich der klassischen Liebeslyrik und den lyrischen Liebesbriefen aus dem Liebesbriefarchiv widmete, stand die Frage im Raum, was Lyrik überhaupt sei. Wie stellen wir uns einen Text vor, von dem wir behaupten, dass er lyrisch ist?

Zur Beantwortung dieser Frage stand das von Jeßing und Köhnen verfasste Einführungswerk Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft1 sowie eine epochale Übersicht zum Wandel der (Liebes)lyrik aus Einfach Deutsch2 zur Verfügung; auf diese wurde beim Diskutieren zurückgegriffen, aber auch auf Vorwissen aus der eigenen Schulzeit oder aus Seminaren wurde Bezug genommen. 

Die Lyrik gehört neben der Dramatik und der Epik zu den drei literarischen Hauptgattungen und ist – begriffsgeschichtlich betrachtet – die jüngste dieser drei Gattungen. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts wird Lyrik als Gattungsbezeichnung verwendet. Der Begriff Lyrik leitet sich ursprünglich vom griechischen Wort lyra ab und umfasst in antiker Tradition all die Dichtungen und Lieder, die singbar und in Begleitung eines Saiteninstruments (wie bspw. der Lyra) vorgetragen werden konnten und wurden.3

Lyrische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Versen verfasst sind, d.h., “dass in den Text durch stetigen Zeilenwechsel Pausen eingefügt sind”4. Den Versen können sowohl eine regelmäßige wie auch freie Rhythmik – die sogenannte Metrik – zu Grunde liegen. Die Verse eines Gedichts sind in Strophen gegliedert. 

Eine spezielle Form der Lyrik ist die Liebeslyrik, die von der Antike bis zur Gegenwart unterschiedliche Formen und Ausprägungen erfahren hat.

Das Material: Liebeslyrik

Zur Besprechung standen drei lyrische Liebesbriefe von 1893, 1938 und 1971 aus dem Liebesbriefarchiv sowie ausgewählte Liebeslyrik von der Antike bis zum 20. Jahrhundert bereit – angefangen bei Sapphos Ode (Einen Trupp von Reitern, ein Fußvolktreffen), über Petrarcas Sonett CCXX (Wo nahm der Liebesgott das Gold so fein), G.A. Bürgers Die Eine und Goethes Willkommen und Abschied bis hin zu Bertolt Brechts Erinnerung an die Marie A

Die Gedichte aus dem Liebesbriefarchiv standen als Faksimile zur Verfügung, das heißt als originalgetreue Kopie der Maschinen- oder Handschrift. Die Gedichte der bekannten Autor*innen lagen nicht als Faksimile, sondern in edierter Form vor, da die Original-Handschriften zum Teil verschollen, nur schwer zugänglich oder in anderen Originalsprachen verfasst sind.

Der lyrische Liebesbrief

Zwei Beispiele von Liebesgedichten aus dem Liebesbriefarchiv waren bei den Teilnehmer*innen von besonderem Interesse und wurden intensiv behandelt. Beide Beispiele ähneln sich in ihrer formalen Aufmachung – etwa durch die Über- und Unterschrift – und erinnern dank ihrer Form an den prototypischen Aufbau eines (Liebes)briefs.

Im Folgenden soll näher auf diese lyrischen Liebesbriefbeispiele aus dem Liebesbriefarchiv eingegangen werden.

maschinengeschriebener Liebesbrief in Gedichtform
LB_00085_0001_anonymisiert. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv. Dieses Liebesbriefgedicht können Sie sich unter Vertonungen anhören.

In dem Liebesgedicht “An meine Liebste in der fernen Heimat …” aus dem Jahr 1971 beschreibt das lyrische Ich vordergründig einen Sonnenuntergang am Meer. Das lyrische Ich denkt an seine Geliebte und imaginiert beim Schlafengehen deren Berührungen und führt sich die Liebe zu ihr vor Augen. Aus der Überschrift des Gedichts lässt sich schließen, dass es sich um eine vorübergehende räumliche Trennung der beiden Liebenden handelt. Das Gedicht scheint aus Sehnsucht zur Geliebten verfasst worden zu sein und die sich durchziehende Beschreibung des Meeres mündet zum Ende des Gedichts in einer Hafen-Metapher, wenn der Verfasser schreibt: “denn deine Liebe ist mein stärkster Hafen, / und nur in deinen Armen bin ich reich!” Formal ist das Gedicht in zwei Strophen mit jeweils 8 Versen aufgeteilt. Die Verse – hauptsächlich in Jamben mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl an Hebungen verfasst – sind unterschiedlich lang und erinnern deshalb rein von der äußeren Form an die inhaltlich beschriebenen “Wellenkämme” des Meeres. Es liegt ein Kreuzreim vor. Außerdem ist das Gedicht mit einer Orts- und Datumsangabe überschrieben und mit einer Beendigungsformel (beides hier anonymisiert) unterzeichnet, was typisch für einen Brief ist.

handgeschriebener Liebesbrief in Gedichtform
LB_00750_0001_anonymisiert.
CC-BY-SA Liebesbriefarchiv

In dem 1938 verfassten Gedicht “Nur Eine!” aus dem Liebesbriefarchiv berichtet das lyrische Ich von einer Frau, die es “ach so innig lieb[t]” und “nie und nimmer” verlassen möchte. Zu diesem Schluss kommt es durch eine Gegenüberstellung: In seinem Leben hat es “Tausend Lippen […] wahllos [ge]grüßt[]” und “Tausend Frauen […] achtlos [ge]küsst”, doch es ist die eine Frau, für die sich das lyrische Ich entschieden hat und die alle anderen Frauen in den Schatten stellt. Das Gedicht dient dazu, der Adressatin die Liebe zu beteuern und ihr deutlich zu machen, dass es für den Verfasser des Gedichts nur eine Frau gibt – nämlich sie. Formal umfasst das Gedicht eine Strophe mit zehn Versen; das Metrum ist unregelmäßig. In den ersten acht Versen liegt ein Kreuzreim vor; die letzten beiden Verse enden mit einem Paarreim. Auch dieses Gedicht ist persönlich unterzeichnet (hier anonymisiert), allerdings fehlt hier die Orts- und Datumsangabe wie im ersten Beispiel.

Dem Liebesbrief nachgestellte Liebeslyrik

Wie vielfältig Lyrik in der Liebeskommunikation eingesetzt werden kann, zeigt sich auch an einem weiteren besprochenen Beispiel aus dem Liebesbriefarchiv.

Neben den lyrischen Liebesbriefen als solchen gibt es auch Liebesbriefe, denen Liebesgedichte nachgestellt sind, wie dieser Liebesbrief aus dem Jahr 1893 zeigt. “Noch eins Oskar, daß Du mir nicht böse sein wirst, daß ich mir erlaubte an dich zu schreiben; aber der Drang des Herzens zu Dir, forderte mich dazu auf.” Mit diesen Worten versucht die Verfasserin des Liebesbriefs – der aus dem Anlass einer Trennung heraus geschrieben wurde – das Verfassen und Verschicken dieses Briefes zu rechtfertigen. Dem eigentlichen Liebesbrief stellt sie einige Verse nach, die als eine Art Zusammenfassung des zuvor Geschriebenen und Reflexion der Trennungssituation fungieren – eine Überschrift ist hier nicht zu finden, ebensowenig wie eine Unterschrift, die aber bereits unter den Liebesbrief gesetzt wurde. Das nachgestellte Liebesgedicht verleiht dem eigentlichen Liebesbrief noch einmal Nachdruck und zeugt von der Intensität und Ernsthaftigkeit der Gefühle, die durch die lyrische Gestaltung noch einmal in eine neue Form gebracht wurden. Das Liebesgedicht umfasst eine Strophe mit 21 Versen – sowohl das Reimschema als auch das Metrum sind unregelmäßig und folgen keinem ersichtlichen Muster.

Klassische Liebeslyrik vs. Lyrische Liebesbriefe aus dem Liebesbriefarchiv

Gewappnet mit diesen Ergebnissen, diskutierte man angeregt über die Frage, was eigentlich die Liebeslyrik bekannter und professioneller Autor*innen von der Liebeslyrik ungeübter Autor*innen unterscheidet bzw. eint. Zwei Gedichte boten sich zunächst besonders für einen solchen Vergleich an: Gottfried August Bürgers 1789 erschienenes Sonett “Die Eine” und das 1938 verfasste Gedicht “Nur Eine!” aus dem Liebesbriefarchiv.

Das Sonett 'Die Eine' von Gottfried August Bürger
aus: Häntzschel, Günter und Hiltrud (Hrsg.): Gottfried August Bürger. Sämtliche Werke, München 1987, S. 124.
handgeschriebenes Liebesgedicht mit dem Titel 'Nur Eine!'
LB_00750_0001_anonymisiert. CC-BA-SA Liebesbriefarchiv

Beide Gedichte tragen nicht nur einen ähnlichen Titel, sondern ähneln sich auch stark thematisch: Das lyrische Ich begehrt nur eine Frau, auch wenn es noch viele andere Frauen auf der Welt gibt. In Bürgers Sonett ist das lyrische Ich von vornherein ‘blind’ für andere Frauen – auch wenn es um deren Reize weiß -, wohingegen in dem Liebesgedicht aus dem Liebesbriefarchiv das lyrische Ich bereits tausend Frauen “wahllos küßte” (V. 5) und “achtlos grüßte” (V. 7) und dadurch zu dem Schluss kommt, dass es “nur Eine” für ihn gibt. Der formale Aufbau in Verse und Strophen wurde in beiden Gedichten eingehalten: Bürgers Sonett ist – wie es sich für ein Sonett nach petrarkischer Art gehört – in vier Strophen eingeteilt (zwei Quartette und zwei Terzette), wohingegen das Gedicht aus dem Liebesbriefarchiv eine einzige Strophe mit 10 Versen umfasst. 

Trotzdem gibt es – von der Thematik und Strophenform einmal abgesehen – einen Unterschied zwischen Bürgers “Die Eine” und dem Gedicht “Nur Eine!” aus dem Liebesbriefarchiv: Die sonst übliche Großschreibung zu Beginn eines neuen Verses lässt sich in dem Gedicht aus dem Liebesbriefarchiv nicht beobachten – es liegen hier Unterschiede in der Graphie vor. Das trifft übrigens auch auf das Liebesgedicht “An meine Liebste in der fernen Heimat …” aus dem Liebesbriefarchiv zu. Das kann möglicherweise daran liegen, dass die ungeübten Autor*innen – anders als die professionellen Autor*innen – nicht mit den gattungsspezifischen Merkmalen vertraut sind und deshalb nicht wissen, dass Versanfänge in der Regel großgeschrieben werden.

Darüber hinaus wurde außerdem noch festgehalten, dass professionelle Autor*innen oftmals über die Jahre hinweg ihre Gedichte überarbeiten, während ungeübte Autor*innen davon seltener Gebrauch machen, da ihre Gedichte nicht für die Öffentlichkeit, sondern für Privatpersonen bestimmt sind. Außerdem wurde die Beobachtung gemacht, dass das Einhalten bzw. das Spiel mit dem Metrum bei den Liebesgedichten aus dem Liebesbriefarchiv eher unbeabsichtigt bzw. ungeübt wirkt im Gegensatz zur klassischen Liebeslyrik. Auch die Einheitlichkeit der Bildsprache scheint bei professionellen Autor*innen deutlich ausgereifter. Goethes “Willkommen und Abschied” galt hierbei als Vorbild, wird in den vier Strophen doch eine kohärente Geschichte vom Aufbruch zur bis hin zum Abschied der Geliebten erzählt. Allen Liebesgedichten gleich ist – wie es sich für Lyrik gehört – der Aufbau in Verse und Strophen. Außerdem wird in allen Gedichten – was hauptsächlich der Mehrzahl der männlichen Autoren geschuldet ist – die Liebe zu einer Frau besungen.

Wieso eigentlich Liebeslyrik und keine Liebesbriefe?

Final wurde intensiv diskutiert, was Menschen dazu bewegt, Liebesgedichte anstatt Liebesbriefe zu schreiben bzw. dem Liebesbrief lyrische Verse nachzustellen. Denn die meisten Liebesbotschaften aus dem Liebesbriefarchiv sind in Prosa verfasste Liebesbriefe und keine Liebesgedichte. Liebesgedichte sind also von vornherein seltener in dem Bestand des Liebesbriefarchivs anzutreffen. Werden Liebesbriefe in Prosa verfasst, dann ist es dem*der Schreiber*in möglich, Inhalte in einer Art Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) niederzuschreiben. Gedanken und Gefühle können frei von der Seele geschrieben werden, wie sie einem gerade in den Kopf kommen. Selbstverständlich steht es aber auch jeder*m Schreiber*in offen, Liebesbriefe vorzuschreiben und dann in Reinschrift zu übertragen – auch hiervon wird Gebrauch gemacht. In Liebesgedichten bzw. Lyrik generell ist Sprache sehr verdichtet; man ist darum bemüht, seine Gefühle und sein Anliegen in eine Form zu gießen, nämlich in Verse und Strophen. Häufig sollen sich die Verse dabei noch reimen. Allein dieser Mehraufwand führt dazu, dass Liebesgedichte noch einmal eine besondere Rolle einnehmen und sie noch einmal besonders wertgeschätzt werden.


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  1. Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart 4. aktualisierte und überarbeitete Auflage 2017. ↩︎
  2. Friedl, Gerhard: Liebeslyrik, Paderborn 2009 (= Einfach Deutsch. Unterrichtsmodell). ↩︎
  3. Vgl. Jeßing/Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, S. 135. ↩︎
  4. Ebd., S. 136. ↩︎
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