von Andrea Rapp (TU Darmstadt) und Lena Dunkelmann (Universität Koblenz)

Zu den Citizen-Science-Aktivitäten des Projekts Gruß & Kuss gehört auch das gemeinsame Lesen und Analysieren von ausgewählten Briefen aus dem Liebesbriefarchiv. Dabei werden zu einem bestimmten Thema jeweils passende Briefe aus dem Fundus ausgesucht. Die Teilnehmer*innen erhalten zudem zur Vorbereitung einen passenden wissenschaftlichen Artikel. Eine strenge Vorbereitung ist nicht notwendig, da aber die Gruppe gemischt ist, einige länger dabei sind, einige neu hinzukommen, einige Zeit haben, den Artikel zu lesen, andere nicht, gibt es zumeist gleich einen lebhaften Austausch und Informationsfluss in der Gruppe, der sich dann beim Lesen und Besprechen der Briefe noch intensiviert.

Bürgerwissenschaftler*innen sitzen mit Prof. Andrea Rapp an einem weihnachtlich geschmückten Tisch und lesen Liebesbriefe.
Weihnachtlicher Liebesbriefstammtisch im Residenzschloss Darmstadt. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv

Am 30.11.2022 trafen sich Liebesbriefbegeisterte zum monatlichen Liebesbriefstammtisch, diesmal in den Räumen der Technischen Universität Darmstadt im Residenzschloss und in vorweihnachtlicher Atmosphäre. Auch im Koblenzer Weindorf fanden sich einige liebesbriefinteressierte Bürgerwissenschaftler*innen zusammen. Passend zur Vorweihnachtszeit war für diesen Liebesbriefstammtisch auch das Thema ausgewählt – Weihnachtsbriefe.

Charakteristik des Weihnachtsbriefs

Zur Vorbereitung auf den Liebesbriefstammtisch wurde der kurze Artikel von Thomas Spranz-Fogasy Der Weihnachtsbrief1 zur Verfügung gestellt. Der Artikel widmet sich zwar nicht dem Liebesbrief, sondern dem Familienbrief; dennoch lassen sich einige textlinguistische und genrespezifische Merkmale zusammenfassen, die auch auf weihnachtliche Liebesbriefe in unserem Sinne übertragbar sind:

  • der Anlass, das sorgfältige Planen des Briefes,
  • der wiederkehrende Rhythmus,
  • der ‚standardisierte‘ Aufbau,
  • das Persönliche, verbunden mit dem Allgemeinen (Weltgeschehen),
  • angemessene Sprache und angemessene Gestaltung,
  • Multimodalität: Bilder und Texte,
  • der kommunikative Akt als sozialer Akt (Verbundenheit, Kontakthalten),
  • Multifunktionalität: Reflexion und Bericht, Kontakthalten,
  • das Einbinden des familiären und freundschaftlichen ‚Netzwerks‘ durch Grüßen.

Aus dem Liebesbriefarchiv wurden vier Beispiele weihnachtlicher Briefe ausgewählt. Diese vier Beispiele haben in mancher Hinsicht Gemeinsamkeiten, sind aber dennoch thematisch, inhaltlich, sprachlich und gestalterisch ganz individuell.

Nach einer ersten gemeinsamen Reflexion über eigene Erfahrungen mit dem Genre Weihnachtsbrief wurden die Charakteristika, die Spranz-Fogasy herausarbeitet, diskutiert. Besonders intensiv tauschten sich die Teilnehmer*innen darüber aus, dass und warum wir um Weihnachten herum, in der sogenannten Zeit ‚zwischen den Jahren‘, die Gelegenheit ergreifen, wichtige Dinge und Ereignisse zu reflektieren und dies auch schriftlich festzuhalten. In der Weihnachtszeit gibt es nicht nur etwas mehr Ruhe und Zeit, sondern auch das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und ein Jahr abzuschließen, sich der Familie und der Partnerschaft zu widmen und nicht zuletzt eine Tendenz zu mehr Emotionalität.

Weihnachtsbrief als Weihnachtsgeschenk

Der Brief offenbart im Schlusssatz seine ganz besondere Bedeutung: Er ist das Weihnachtsgeschenk des Verfassers, da das Paar keine anderen Geschenke hat (vermutlich aus Geldmangel oder aufgrund der Kriegssituation). Dieser Mangel an ‘physischen’ Geschenken wird mehr als ausgeglichen durch den Reichtum an Liebe, für die der Brief sichtbares Zeichen und konkretes wie auch physisches Geschenk ist. Er ist mit der Schreibmaschine geschrieben, was hier jedoch sicher kein Zeichen von Distanz, sondern von Sorgfalt ist. Die Sprache ist dagegen überaus emotional, bildhaft, assoziativ, mündlichkeitsnah; die Orthographie ab und an fehlerhaft. Der Schreiber beginnt mit der Reflexion seiner Situation, bevor er die Partnerin traf („aber ich schwamm ja auf einer einsamen Insel“), und fasst das Erlebnis der Begegnung und seine Gefühle für sie in Bilder, die auf konventionellen Vorstellungen und Assoziationen fußen, im Ausdruck dann doch individuell und hochemotional formuliert werden.2 Wichtige Bilder sind der Stern, die Sternennacht, das Nach-den-Sternen-Greifen, das Strahlen des Sterns sowie der Gegensatz zwischen der Weiße und der Kälte des Schnees und der Wärme des Blutes und des Herzens. Diese Bilder werden assoziativ-kreativ verbunden („Sternennacht segnete unsere Herzen, innere Wärme strahlt wie Sterne nach außen“) und sprachlich-assoziativ ‘umkreist’, so dass bei der Leserin bekannte Bilder abgerufen werden können, die dennoch ‘neu’ und individuell vermittelt werden. Auch das Sterntalermärchen oder die Blutstropfenepisode aus dem Parzival könnten hier – je nach dem Kenntnisstand der Schreibenden – aufgerufen werden und als Beispiel der Bekanntheit und Beliebtheit solcher Bilder in unserer Kultur, unserem kulturellen Gedächtnis zeugen.

Ganz persönlich wird der Brief dann nochmals, wenn das prägende Ereignis des Jahres erwähnt und auf den Tod eines Kindes hingewiesen wird – dieses Erlebnis scheint das Paar noch mehr zusammengeschweißt zu haben. Der Schreiber geht nun im letzten Abschnitt dazu über, die Partnerin konkreter anzusprechen und auch seine Liebe für sie konkret zu benennen: „ich liebe dich“. Er bezeichnet sie zum einen als „Lebenskameradin“, was große Nähe ausdrückt, zum anderen spricht er von „Vergötterung und Verehrung“, was große Distanz markiert. Im Bild des Sterns, in dem er das Paradox von Ferne und Strahlen sowie von Nähe und Wärme verbindet, findet er seinen Ausdruck für die Komplexität seiner Liebesgefühle. 

Weihnachtspost aus der Kriegsgefangenschaft

Auch aus dem Kriegsgefangenenlager versuchte man, der Familie daheim ein Lebenszeichen zu Weihnachten zu senden. In unserem Beispiel werden die besonderen Bedingungen solcher Briefe oder Karten, die durch die Zensur gingen, deutlich: Die Postkarte hat nur eine sehr begrenzte Anzahl an Zeilen, die Karten oder Briefe mussten leserlich geschrieben sein, sie durften keine Informationen über die Zustände im Lager oder den genauen Aufenthaltsort übermitteln.

Die Karte ist mit Anrede und Grußzeile (beides hier anonymisiert) formell gestaltet. Die Schrift ist, wie die Regeln der Zensur es vorschreiben, sehr sorgfältig und leserlich; die Buchstabenformen und auch der kleine Fehler („grühst“) weisen vermutlich auf einen sonst nicht sehr geübten Schreiber hin. Übermittelt werden vor allem Grüße, sogar in wiederholender Formulierung. Dennoch enthalten diese kargen Zeilen auch wichtige Botschaften: Zum einen die Grüße an die Partnerin und die Familie, das ‚Netzwerk‘ zu Hause, die beruhigende Nachricht, dass es dem Schreiber gut geht – hier in der Phrase „bin noch gesund und munter“, die etwas Individualität und Leichtigkeit vermitteln soll – und natürlich vor allem die Hoffnung „auf ein baldiges Wiedersehen“. 

Diese Karte ist damit ein gutes Beispiel für die schwierigen und belastenden Verhältnisse getrennter Familien in der (Nach-)Kriegszeit und für die Möglichkeiten knapper und doch persönlicher Nachrichten, die sicherlich gerade zur Weihnachtszeit hoffnungsvoll aufgenommen wurden.

Weihnachtsbrief als Bilanz und Ausblick

Dieser Brief ist sorgfältig geschrieben und mit einer Zeichnung persönlich gestaltet, wobei hier auf das konventionelle Motiv des Tannenzweigs mit strahlender Kerze zurückgegriffen wird. Mit einem Verweis auf die Natur, die am Ende des Jahres zur Ruhe kommt, beginnt der Schreiber mit seiner Reflexion: er sieht Weihnachten als das wichtigste Fest, das man mit der Partnerin verbringen möchte – umso größer ist seine Sehnsucht nach ihr. Um seine Situation anschaulich zu machen, seine Überlegungen einzubetten und seine Partnerin einzubeziehen, schildert er seinen Spaziergang, die ihm den Anlass für seine Reflexion gibt und imaginiert die Partnerin an seine Seite. Er spricht nicht nur von sich, sondern fragt auch danach, was die Partnerin bewegt und findet eine schöne Formulierung für ihre Verbindung: Obwohl sie nicht persönlich zusammen sein können, so sind sie doch „im Denken vereint(S. 4 des Briefs), so dass er sich ihr nah fühlt. Auch hier wird die Liebe ganz direkt ausgesprochen. Auf den beiden Schlussseiten wird die Schrift erkennbar unregelmäßiger, was einerseits mit dem Umfang des Briefes, aber auch mit dem Inhalt zu tun haben kann. Nach einer großen Enttäuschung durch eine andere Frau sieht er nun seine große Liebe in der Adressatin des Briefes, malt ihre gemeinsame Zukunft aus und stellt ihre Heirat in Aussicht, die auch von den finanziellen Rahmenbedingungen des Paares abhängt. Der Brief schließt mit der Hoffnung auf das Wiedersehen, das er liebevoll umschreibt mit „Wieder mal in Deine lieben Augen sehen zu dürfen“, so wie die Augen und der liebevolle Blick in Literatur und Kultur häufig für die Geliebte stehen. Mit der Formulierung „Viele, viele Küsse warten auf Deine Ankunft“ gelingt es ihm, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und der Partnerin zu vermitteln, wie er darauf wartet, dass sie sich ihm zuwendet.

Weihnachtskarte als Entschuldigung

„Die bevorstehenden, seit langem etwas ruhigeren Tage regen mich zum Nachdenken an.“ Mit diesen Worten leitet der Verfasser dieser Weihnachtskarte dazu über, die – offenbar in einer Trennung geendete – Beziehung zu reflektieren. Der Rückblick auf die gemeinsame Zeit bereitet ihm gleichermaßen Freude und Schmerz und er stellt sich die Frage, wie es so weit kommen konnte. Der Verfasser scheint noch immer Gefühle für die adressierte Person zu haben, indem er dem SatzDu bist so einzigartig!“ die Worte „Noch immer“ nachstellt und somit nicht nur den Inhalt verstärkt, sondern auch auf dessen gegenwärtige Bedeutung verweist. Die Karte endet mit der eher distanziert erscheinenden Abschiedsformel „Herzliche Grüße“, nachdem zuvor sehr emotionale und persönliche Worte an die Adressatin gerichtet und der recht verlegene Versuch getätigt wurde, mit den der Karte beigelegten Champagnertrüffeln bei der Adressatin um Verzeihung zu bitten – hat sie doch „allen Grund, böse auf [den Verfasser] zu sein.“
Die für dieses Vorhaben gewählte, von der Motivik eher kindlich wirkende Weihnachtskarte ziert auf der Vorderseite ein von Sternen umgebenes Einhorn, das ein Geschenk in den Händen hält. Die bunte Karte und das Einhorn signalisieren hierbei Unschuld, wobei mit dem Einhorn als magischem Wesen möglicherweise auch die Hoffnung ausgedrückt werden soll, dass es für die zerbrochene Beziehung doch noch eine glückliche Wendung geben mag.

Fazit

Alle weihnachtlichen Liebesbriefe wurden aus dem gleichen Anlass heraus verfasst: Weihnachten – dem Fest der Liebe – und der bevorstehenden Jahreswende. Dennoch sind alle Weihnachtsbriefe individuell gestaltet und verfolgen ihre ganz eigenen Ziele – sei es, um als Geschenk zu dienen, ein Lebenszeichen aus dem Krieg zu senden oder die Beziehung zu reflektieren, um die Sehnsucht nach der Partnerin auszudrücken oder um Entschuldigung zu bitten. Am Ende aber vermitteln alle Weihnachtsbriefe die gleiche Botschaft: Du bist und warst mir in diesem Jahr wichtig und ich denke an dich.


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  1. Spranz-Fogasy, Thomas (2020): Der Weihnachtsbrief. In: Marx, Konstanze (Hg.): Weihnachtslinguistik. Festliche Texte über Sprache. Tübingen, S. 53–55. ↩︎
  2. Eva L. Wyss beschreibt in einem Interview mit dem Spiegel Geschichte den Ausdruck zwischen Konventionalität und Individualität im Liebesbrief folgendermaßen: “Wörter und Wendungen wiederholen sich immer wieder, ganze Textpassagen scheinen sich zu gleichen. Der Liebesbrief versagt vor dem Wunsch nach Originalität und Einmaligkeit, die Sprache der Liebe kommt einem erst vor wie ein Gefängnis, aus dem es sprachlich kein Entrinnen gibt. Dennoch entstehen durch Variation und Wandel der situativen Kontexte immer wieder erstaunlich spannende neue Formulierungen.” (Iken, Katja (2021, 30. Juni): Koblenzer Liebesbriefarchiv »Ich küsse und drücke dich 1095060437082-mal«. Spiegel Geschichte. https://www.spiegel.de/geschichte/koblenzer-liebesbriefarchiv-ich-kuesse-und-druecke-dich-1095060437082mal-a-538ef281-0636-4154-befb-6d011337c442, zuletzt aufgerufen am 20.12.2022. ↩︎
Kategorien: Liebesbriefstammtisch