von Ruth Reiche (TU Darmstadt)

Wer empfängt Liebesbriefe? Üblicherweise Frauen – so das Ergebnis und der Tenor des fünften Liebesbriefstammtisches „Liebesbriefe für Frauen“, der am 9. März 2023 in Darmstadt stattfand. Durch das Empfangen nehme die Frau eine passive Rolle ein. Das ist eine Aussage, die in der mittlerweile vierten Welle des Feminismus für starkes Unbehagen sorgt. Doch der Topos des ‚aktiven‘ Mannes und der ‚passiven‘ Frau ist in der abendländischen Kulturgeschichte weit verbreitet und spiegelt sich auch im Kontext der bildenden Kunst wider, sei es in dem Verhältnis vom Künstler und seiner Muse, dem Künstler und seinem weiblichen Modell oder eben auch in dem Bildmotiv der ‚empfangenden‘ Frau. In allen diesen Sujets erscheint der Mann als Subjekt, die Frau hingegen wird zum Objekt. Dieses Bild bestätigte sich auch bei den auf dem Stammtisch besprochenen Gemälden vom Barock bis zum Biedermeier, von denen an dieser Stelle an die prominentesten Beispiele kurz erinnert sei, bevor weibliche Positionen in den Blick genommen werden.

Der Liebesbrief in Gemälden von männlichen Künstlern

Jan Vermeer van Delft (1632–1675): „Das brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657–1659)

Das Gemälde des niederländischen Barockmalers ist eines der bekanntesten Werke des Goldenen Zeitalters. Es zeigt ein in der Bildmitte positioniertes Mädchen im Profil, das am Tageslicht spendenden Fenster steht, in dessen Scheiben es sich spiegelt, und das in inniger Versenkung einen Brief liest (s. Abb. 1). Die These, dass es sich bei dem dargestellten Brief in den Händen des Mädchens um einen Liebesbrief handelt, wird vor allem durch die Darstellung eines nackten Cupido an der Wand im Bildhintergrund untermauert. Der knabenhafte Liebesgott wurde bereits 1982 durch Annaliese Mayer-Meintschel hinter einer Übermalung entdeckt und 2021 bei Restaurierungsarbeiten freigelegt, nachdem Untersuchungen ergeben hatten, dass die Übermalung nicht von Vermeer selbst stammt.1 Der Cupido stützt sich auf einen Bogen, am Boden liegen Pfeile und – für die Bildaussage von enormer Bedeutung – er tritt mit seinem rechten Fuß auf eine Maske, was zeitgenössische und mit Emblembüchern vertraute Bildbetrachter*innen als Symbol für die aufrichtige Liebe zu lesen wussten.2

Abb. 1: Jan Vermeer van Delft: „Das brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657–1659), Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm, Bildquelle: Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische, URL: https://www.skd.museum/besucherservice/presse/2021/ein-liebesgott-taucht-auf-vermeers-brieflesendes-maedchen-am-offenen-fenster-vollstaendig-restauriert/ (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024)

François Boucher (1703–1770): „Der Liebesbrief“ (1750)

Das Rokoko-Gemälde „Der Liebesbrief“ von François Boucher zeigt hingegen nicht eine in sich selbst Versunkene, sondern zwei junge Frauen, die umringt von Schafen inmitten einer prachtvollen Landschaft sitzen (s. Abb. 2). Dieses Setting beschwört die in der frühen Neuzeit beliebte Vorstellung Arkadiens als paradiesische Schäferidylle herauf. Barfuß, aber in üppigen Kleidern, schmiegen sich die beiden Hirtinnen vertraut aneinander und teilen freundschaftlich den Empfang eines Liebesbriefes. In den Händen halten sie den noch ungeöffneten Brief sowie eine Taube, die als Überbringerin des Briefes und allgemein bekanntes Symbol für die Liebe gleich doppelte Funktion einnimmt. Die Frau, die dabei die Taube festhält, blickt erwartungsvoll hoch zu der anderen, die sanft lächelnd den Liebesbrief an sich nimmt und sich damit als Adressatin der Liebesbotschaft zu erkennen gibt.

Abb. 2: François Boucher: „Der Liebesbrief“ (1750), Öl auf Leinwand, 81.2 x 75.2 cm, Bildquelle: National Gallery of Art, Washington, D.C., URL: https://www.nga.gov/collection/art-object-page.46027.html (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024).

Ferdinand Georg Waldmüller (1793–1865): „Der Liebesbrief“ (1849)

Ein weiteres bekanntes Gemälde, das rund ein Jahrhundert später vom österreichischen Maler der Biedermeierzeit Ferdinand Georg Waldmüller gemalt wurde, versetzt das Motiv zweier junger Frauen, die den Empfang bzw. hier das Lesen eines Liebesbriefes freundschaftlich teilen, in einen nicht näher bestimmten Innenraum: Die beiden in antikisierende Gewänder gekleidete Frauen halten mit je einer Hand einen Brief, den die eine mit einer Kerze beleuchtet und liest, während die andere, wie oben bei Boucher, die Lesende anblickt und deren Reaktion beobachtet (s. Abb. 3).

Abb. 3: Ferdinand Georg Waldmüller: „Der Liebesbrief“ (1849), Öl auf Leinwand, 76 x 61,5 cm, Bildquelle: Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Ferdinand_Georg_Waldmueller_-_Der_Liebesbrief_sRGB.jpg (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024).

Jan Braet von Uberfeldt (1807–1894): „Der Liebesbrief“ (1852)

Der niederländische Genremaler Jan Braet von Uberfeldt zeigt in seiner nur wenige Jahre später entstandenen Version des Liebesbrief-Themas eine eher alltägliche und weniger freudig erwartungsvoll aufgeladene Situation: Eine Frau in einfachem bürgerlichem Gewand mit Spitzenhäubchen bügelt um die Mittagszeit herum am offenen Fenster, durch das sich ein Mann mit bereits ergrautem Bart und Hut lehnt (s. Abb. 4). In der einen Hand hält er einen Liebesbrief, die andere formt eine auffordernd wirkende Geste. Er blickt die Frau jedoch nicht an. Die Frau neigt ihren Kopf dem Fenster zu, es entsteht ihrerseits jedoch auch keine Blickbeziehung. Lediglich der neben der Frau auf einem Hocker sitzende Hund blickt den Mann direkt an. Während bei den bislang beschriebenen Gemälden der Sender stets im Verborgenen war, ist hier die Übergabe sichtbar.

Abb. 4: Jan Braet von Uberfeldt : „Der Liebesbrief“ (1852), Öl auf Leinwand, 32,8 x 27,5 cm, Bildquelle: Simonis & Buunk Kunsthandel, URL: https://www.simonis-buunk.de/kunst/jan-braet-von-uberfeldt-gemaelde-der-liebesbrief/22712/ (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024).

 Carl Spitzweg (1808–1885): „Der abgefangene Liebesbrief“ (um 1855)

Bei Carl Spitzwegs womöglich bekanntesten Gemälde gestaltet sich die Situation wiederum anders: Ein Student lässt an einer Schnur einen Brief aus seinem Fenster im obersten Stockwerk eines Hauses herunter, der ganz offenbar für das im Stockwerk darunter wohnende Mädchen bestimmt ist (s. Abb. 5). Es sitzt am offenen Fenster, ist aber so in seine Handarbeit vertieft, dass es den Brief nicht kommen sieht – ganz im Gegensatz zu seiner überrascht dreinblickenden Mutter, Tante oder Gouvernante, die erschrocken ihre Hände hebt und damit das auf ihre Frömmigkeit hindeutende Kreuz auf ihrer Brust umrahmt.3 Der Titel des Bildes verweist auf den Ausgang der dargestellten Szene.

Abb. 5: Carl Spitzweg: “Der abgefangene Liebesbrief”, Öl auf Leinwand, 54,2 x 32,3 cm, Bildquelle: Wikimedia, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carl_Spitzweg_013.jpg (zuletzt aufgerufen am 28.03.2024).

Liebesbriefe in Positionen weiblicher Kunst

Dass der sogenannte ‚männliche‘ Blick in den besprochenen Gemälden dominiert, ist nicht weiter verwunderlich, da es sich bei der Auswahl ausschließlich um Gemälde von Malern handelt, die ihre Gemälde an ein vorwiegend männliches Kunstpublikum adressiert haben. Hinzu kommt eine strukturell bedingte Unterrepräsentation von Frauen im Kunstbetrieb, gepaart mit einer männlich dominierten Kunstgeschichtsschreibung, die weibliche Positionen lange ausgeklammert hat.4 Dem jedoch wird aktuell der Trend entgegengesetzt, dezidiert Künstlerinnen in den Fokus der Betrachtung zu rücken: Inzwischen allgemein bekannte Ausnahmen in der Kunstgeschichte der frühen Neuzeit sind beispielsweise Artemisia Gentileschi (1553–1654) oder Angelika Kauffmann (1741–1807), gefolgt von der auf naturalistische Tiermalerei spezialisierten Rosa Bonheur (1822–1899) oder den vier Frauen des Impressionimus, namentlich Marie Bracquemond (1840–1916), Berthe Morisot (1841–1895), Mary Cassatt (1844–1926) und Eva Gonzalès (1849–1883).5 Auch die Frauen des Expressionismus und des Sturm haben bereits gesonderte Aufmerksamkeit erfahren,6 ebenso die Künstlerinnen des Surrealismus.7 Im Folgenden soll daher – quasi als Korrektiv der manifest erscheinenden Subjekt-Objekt-Beziehung von Mann und Frau –  der Frage nachgegangen werden, wie das Schreiben und Empfangen von Liebesbriefen im Werk von Künstlerinnen dargestellt wird. Auch wenn es mit Sicherheit lohnenswert wäre, kann an dieser Stelle jedoch keine breit angelegte Auswertung erfolgen, um zu beantworten, in welchen Œuvres von welchen Künstlerinnen in welcher Epoche bzw. in welcher Kunstströmung der Liebesbrief welche Rolle spielt. Stattdessen seien aber – sozusagen stichprobenartig – Beispiele aus Moderne und Gegenwartskunst genannt, die zumindest einen Einblick geben, wie der (Liebes-)Brief von Künstlerinnen ins Bild bzw. in Szene gesetzt wird und wie sich hierbei das Verhältnis von Sender*in und Empfänger*in gestaltet.

Mary Cassatt (1844–1926): „Der Brief“ (1890/91)

Als erstes sei Mary Cassatts „Der Brief” genannt. Die Grafik ist Teil einer zehn Motive umfassenden Serie von Experimenten, in der sie den zu dieser Zeit in Europa beliebten japanischen Farbholzschnitt mit den Tiefdrucktechniken Kaltnadelradierung und Aquatinta umsetzt.8 Mary Cassatt hatte zuvor die vom Kunsthändler Siegfried Bing initiierte Ausstellung japanischer Farbholzschnitte im sogenannten ukiyo-e-Stil an der Ecole des Beaux-Arts in Paris besucht und sich hiervon inspirieren lassen.9 Die Serie gab der amerikanischen Künstlerin, die zuvor an vier der insgesamt acht Impressionistenausstellungen beteiligt war, neuen Aufschwung. Cassatt ist insbesondere für ihre Gemälde bekannt, in denen sie die Beziehung zwischen Mutter und Kind thematisiert und oftmals auch im intimen Moment des Stillens darstellt. In „Der Brief“ hingegen greift sie einen anderen privaten Augenblick auf: Sie zeigt eine Frau beim Verschließen eines Briefes. Im Gegensatz zu ihren Mutter-Kind-Bildern mit den warmen, weichen Babykörpern, die sich an ihre Mutter anschmiegen, besitzt das Bild der Frau eine gewisse Kühle, bedingt durch den strengen Bildaufbau und die Farbwahl. Auch ist die Frau alleine dargestellt, nur durch den Brief mit dem Adressaten verbunden. Eine subtile Andeutung von Sinnlichkeit entsteht hierbei jedoch durch das Ablecken des Briefes. Die Nähe trotz Distanz wird daher zum eigentlichen Bildmotiv. An wen sich der Brief richtet, erfahren wir allerdings nicht.

Abb. 6: Mary Cassatt: “Der Brief” (1891), Kaltnadelradierung, Weichgrundätzung und Aquatinta in Farben, 40,6 x 29,2 cm, Bildquelle: Zeno.org, URL: http://www.zeno.org/nid/20003929876 (zuletzt aufgerufen am 28.03.2024).

Gabriele Münter (1877–1962): „Der Brief (krank)“ (1917)

Gabriele Münters Gemälde zeigt zwei Frauen, wovon die eine mit gesenktem Blick auf ihren Ellenbogen gestützt im Bett liegend dargestellt ist, die andere, offenbar die Kranke besuchend, im Sessel sitzend. Die Besucherin liest einen Brief, den Brief, der als der Auslöser für das Kranksein gelesen werden kann. Die Besucherin leistet der Kranken folglich Beistand, lässt sie mit ihrem Kummer nicht allein. Die Darstellung vom gemeinsamen Lesen von Liebesbriefen hat eine gewisse Tradition, wie beispielhaft oben bei Boucher oder Waldmüller zu sehen, doch strahlen die Frauen hier offenbar aufgrund des Briefinhalts nicht Verzückung und Freude aus, sondern im Gegenteil Verzagtheit und Mutlosigkeit. Die blauen Blumen in der Vase – hängend – geben die Stimmung wieder.10 Das Gemälde entstand in Schweden, in Stockholm, wohin Münter 1915 aus Deutschland emigrierte. Das Bild kann „[…] sinnbildhaft für ihre eigene Situation und Seelenlage […]“11 verstanden und mit ihrer Biographie in Verbindung gebracht werden. Ganz konkret kann es sogar als Selbstdarstellung vom Erhalt eines Briefes ihres langjährigen Lebensgefährten Wassily Kandinsky, der sie zuletzt 1916 anlässlich seiner von ihr organisierten Ausstellung in der Galerie Carl Gummesons in Stockholm besucht hatte, interpretiert werden. In zahlreichen Briefen schob er nach seiner Abreise seinen erneuten Besuch immer wieder auf, ebenso wie sein vor Jahren gegebenes Eheversprechen, auf das Münter jedoch mit einer gewissen Sturheit beharrte, um ihren Stand zu rehabilitieren: Das Künstlerpaar hatte in Murnau in ‚wilder‘ Ehe zusammengelebt, weshalb ihr Haus als ‚Hurenhaus‘ beschimpft wurde, was Münter als große Schmach empfand.12 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass in dem auf dem Gemälde gezeigten Brief von erneuten Ausflüchten die Rede ist. Was Münter zu dem Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes jedoch noch nicht wusste, ist, dass Kandinsky im Februar 1917 die junge Generalstochter Nina Andrejewskaja geheiratet hatte. Hiervon erfuhr sie erst Jahre später über einen Mittelsmann, nachdem Kandinsky den Kontakt zu ihr gänzlich abgebrochen hatte.13 Durch den Brief wird eine Distanz hergestellt, eine Distanz, die weit über die räumliche hinausgeht und das Unausweichliche vorweg nimmt. Während bei Cassatt durch den Brief Distanz überbrückt wird, wird sie bei Münter durch ihn erst hergestellt. Das Gemälde ist damit eine Umkehrung des freudigen Liebesbrief-Empfang-Gemäldes.

Abb. 7: Gabriele Münter: „Der Brief (krank)“ (1917), Öl auf Leinwand, 95 x 140 cm,
Bildquelle: Obelisk Art History, URL: https://www.arthistoryproject.com/artists/gabriele-munter/the-letter-sick/ (zuletzt aufgerufen am 12.04.2024).

Dorothea Tanning (1910–2012): „Love Letter“ (1948)

Im Gegensatz zu Münter war die amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning glücklich verheiratet – und zwar mit dem surrealistischen Künstler Max Ernst.14 Dieser biographische Hintergrund ist deshalb nicht irrelevant, da Max Ernst unmittelbar im Bild adressiert wird. Doch tasten wir uns langsam vor: Das kleinformatige Ölgemälde „Love Letter“, das Dorothea Tanning 1969 in eine Farbaquatinta mit einer Auflage von 75 Stück überführte, zeigt ein surreales Stillleben mit insgesamt vier aufgefächert stehenden Büchern, wovon zwei sichtbar eine Tür als Buchdeckel besitzen, so dass sich hier buchstäblich Türen zu einer anderen Welt öffnen. Aus dem Buch auf der linken Seite des Bildes ‚tritt‘ eine orange-bräunliche Gestalt, die aufgrund ihrer seltsamen amorphen Form sowohl an eine Frau im Kleid, an Haare oder auch an eine Vorhangquaste erinnert. Das Buch in der Bildmitte hingegen offeriert dem Betrachtenden zwei Buchseiten, die mit dieser Gestalt optisch korrelieren: Auf der Buchseite rechts ist diese Form auf dunklem Grund viermal abgebildet und zeigt in lexikalischer Manier die verschiedene Bedeutungsvarianten desselben Zeichens auf. Die schwarze Form erinnert dabei an ein Schlüsselloch, ein bei den Surrealisten beliebtes Motiv.15 Auf der von uns linken Buchseite hingegen, die das Zentrum des Gemäldes darstellt, ist ein Bett zu sehen, auf dem eine aus Haaren bestehende Gestalt liegt, darüber eine auf den Kopf gestellte Uhr mit ebenfalls an Haare erinnernden Verzierungen, darunter ein in französischer Sprache verfasster Text, der aufgrund der Perspektive nicht vollständig zu lesen ist, sich jedoch beginnend mit „A mon […] Max Ernst“ (dt. „An meinen […] Max Ernst“) eindeutig an Tannings Mann richtet und mit „le pl[…] du monde“, das sich zu „le plus […] du monde“ (dt. „der beste […] der Welt“) vervollständigen läßt, ganz eindeutig als Liebesbrief offenbart.16

Abb. 8: Dorothea Tanning: “Love Letter” (1948), Öl und Collage auf Leinwand, 30,5 x 35,9 cm, Bildquelle: Dorothea Tanning Foundation, URL: https://www.dorotheatanning.org/life-and-work/view/394/ (zuletzt aufgerufen am 12.04.2024).

Niki de Saint Phalle (1930–2002): „Lettre d’amour à mon amour“ (1986)

Niki de Saint Phalle ist im Allgemeinen für zwei Dinge bekannt: für ihre Schießbilder, die im Rahmen von Performances entstanden und durch die gegensätzliche Verbindung von Aggression und Kreation faszinierten, und ihre bunten Nanas, den Plastiken von voluminösen Frauenkörpern, die ikonisch für das in den 1960er-Jahren aufkommende Selbstbewusstsein der Frau stehen. Leiser hingegen sind ihre Briefe, die als ein eigenständiger Werkbereich gelten.17 Die Briefe sind in unterschiedlichen Techniken ausgeführt. Neben Zeichnungen in Filzstift und Kugelschreiber finden sich hier Siebdrucke, Lithographien oder Keramiken. Besonders augenfällig und ungewöhnlich erscheinen hierbei die Briefe aus Keramik, insofern als sie von der üblichen Vorstellung eines Briefes aus Papier abweichen und damit den Kunstcharakter des Briefes betonen, der nicht Teil privater Korrespondenz ist, sondern Kunstobjekt in Briefform. Anders als ihre modernen Vorgängerinnen stellt de Saint Phalle folglich nicht mehr das Verfassen oder den Empfang eines Briefes oder den Brief als Bildmotiv in einem Bild dar, sondern der Brief selbst wird zum Kunstobjekt.18 Da de Saint Phalle, ähnlich zu Tanning, eine glückliche Beziehung zu einem Künstler – in diesem Fall Jean Tinguely – pflegte, sind zahlreiche ihrer Briefe an „Jean“ adressiert und mit den Worten „je t’aime“ unmissverständlich als Liebesbriefe zu verstehen. Der Siebdruck „Lettre d’amour à mon amour“ (1986) kann vor diesem Hintergrund ebenfalls als an Jean gerichtet verstanden werden, ist darüber hinaus aber universeller Natur, insofern als die Komplimente an ihre Liebe wie Grundpfeiler einer erfüllten Beziehung erscheinen. Sätze wie „tu es mon soleil“ (dt. „du bist meine Sonne“) werden dabei emblematisch mit einem Bildelement, etwa einer Sonne, kombiniert (siehe Abb. 9).

Abb. 9: Niki de Saint Phalle: „Lettre d’amour à mon amour“ (1986), Siebdruck, Auflage: 100 Stück, 60 x 40 cm, Bildquelle: Invaluable, URL: https://www.invaluable.com/auction-lot/niki-de-saint-phalle-lettre-damour-a-mon-amour-19-144-c-5fd4737919 (zuletzt aufgerufen am 12.04.2024).

Sophie Calle: „True Stories“ (seit 1988)

Sophie Calle verfolgt in ihren „wahren Geschichten“ wiederum einen gänzlich anderen Ansatz: In ihren autofiktionalen Geschichten, die als wichtiger Werkzyklus der französischen Konzeptkünstlerin gelten und die jeweils aus einem kurzen Text und einer Fotografie bestehen, erzählt sie von intimen und oftmals skurrilen Episoden aus ihrem Leben und reflektiert so über die großen Themen des Lebens selbst – die (unerwiderte) Liebe darf hier selbstredend nicht fehlen und so wird in diesen „wahren Geschichten“ auch der ein oder andere Liebesbrief zum Thema und Vehikel der Story. In „The Love Letter“ (1988) beauftragt sie jemanden, ihr einen Liebesbrief zu schreiben, da sie bis dato noch nie einen Liebesbrief erhalten hat, und ermächtigt sich hierdurch selbst. In „The Rival“ (1992), dem sechsten Teil ihrer zehnteiligen Arbeit über ihren Ehemann, die mit der Scheidung endet, greift sie das Motiv der Sehnsucht nach dem Erhalt eines Liebesbriefes erneut auf. Die Geschichte ist jedoch bitterer, insofern als sie einen Liebesbrief in der Schreibmaschine ihres Ehemanns steckend findet, ihn peu à peu herauszieht und durch das hierdurch bedingte Rückwärtslesen erst am Ende feststellt, dass der Brief gar nicht an sie gerichtet ist. Sie verändert den Adressaten und schreibt: „This became the letter I had never received.“19 Die die Geschichte begleitende Fotografie zeigt das korrigierte Schriftstück und offenbart weitere Veränderungen. Auch hier ermächtigt sie sich trotz der erfahrenen Verletzung letztlich selbst.
„Journey to California“ (2003) hingegen ist heiterer: Sie schildert den Erhalt eines Briefes aus Kalifornien von einem Mann, der gerne in ihrem Bett schlafen möchte, um über das Ende einer langjährigen Partnerschaft hinwegzukommen. Sie denkt nach und findet eine unkonventionelle Lösung, um ihn nicht abzuweisen: „How to say yes? Tricky. Considering how far he’d have to travel, would it be fair to send him packing if I found him unattractive? And besides, there was already a man in my bed. Two months later, my bed boarded the plane for San Francisco.“20 Der Empfänger zeigt sich erfreut und teilt ihr nach einigen Monaten mit, sein Schmerz hätte nachgelassen, und schickt ihr das Bett zurück.

Resümee

Die besprochene Auswahl an Werken von Künstlerinnen über (Liebes-)Briefe zeigt, dass Rollenverhältnisse vielgestaltig sein können und das Narrativ von der Frau als Empfängerin eben auch nur ein Narrativ ist, das durch ein anderes ersetzt werden kann. Die wenigen Beispiele zeigen dies bereits eindrücklich: Bei Cassatt ist die dargestellte Frau Briefschreiberin; bei Münter ist sie zwar Empfängerin, doch nicht in einer freudvollen Gefühlslage, sondern schonungslos bis aufs Tiefste verstört; bei Tanning ist ein surreal verschlüsselter Liebesbrief, der sich an ihren Mann richtet, das Bildmotiv; Niki de Saint Phalles Liebesbriefe werden hingegen selbst zum Kunstobjekt; bei Calle wiederum werden ganze Geschichten rund um das Briefeschreiben erzählt, wobei die fiktiven Frauenfiguren eine durchaus ‚aktive‘ Rolle einnehmen. Das anfangs konstatierte Unbehagen darf daher wieder weichen, jedoch nicht das Bewusstsein gegenüber der gewaltigen Macht von Narrativen.

  1. Vgl. die Pressemitteilung der Staatlichen Kunsthalle Dresden: Ein Liebesgott taucht auf: Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ vollständig restauriert (24.01.2021), URL: https://www.skd.museum/besucherservice/presse/2021/ein-liebesgott-taucht-auf-vermeers-brieflesendes-maedchen-am-offenen-fenster-vollstaendig-restauriert/ (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024) ↩︎
  2. Vgl. die Reportage der Staatlichen Kunsthalle Dresden: Die Restaurierung von Johannes Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (2021), URL: https://youtu.be/XPvBCxzGYNQ?si=8LifiCbTUAaOkh2i (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024) ↩︎
  3. Das Gemälde ist darüber hinaus gespickt mit symbolhaften Details wie den Turteltauben auf dem Dachfirst, dem Schild der Phönix-Versicherung an der Hauswand oder dem Vogelbauer. Hierzu empfiehlt sich die anschauliche Erklärung der Museumspädagogin Birgit Höhl: “Der abgefangene Liebesbrief” von Carl Spitzweg (2020), URL: https://youtu.be/MrpmaliBDrE?si=J970vf__Bvnr6VHD (zuletzt aufgerufen am 27.03.2024) ↩︎
  4. Vgl. zu dieser Problematik Linda Nochlin (2015): Why Have There Been No Great Women Artists?, in: Maura Reilly (Hg.): Women Artists. The Linda Nochlin Reader, London, S. 42–68, sowie Griselda Pollock (1999): About Canons and Culture Wars, in: Dies.: Differencing the Canon. Feminist Desire and the Writing of Art Histories, New York, S. 3–21. ↩︎
  5. Je ein Kapitel widmete der französische Kunstkritiker Gustave Geffroy in seiner Histoire de L’Impressionisme (1894) Berthe Morisot (Kap. X, S. 261–267), Marie Bracquemond (Kap. XI, S. 268–274) und Mary Cassatt (Kap. XII, S. 275–281) und prägte damit lange das Bild der “trois grandes dames” des Impressionismus; 2008 kam Eva Gonzalès durch eine Ausstellung in der Schirn als Vierte ins öffentliche Bewusstsein. VgI. Ingrid Pfeiffer / Max Hollein (Hg.): Impressionistinnen. Berthe Morisot, Mary Cassatt, Eva Gonzalès, Marie Bracquemond, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt (22. Februar bis 1. Juni 2008), Ostfildern 2008. ↩︎
  6. Vgl. etwa Bilang, Karla (2013): Frauen im »STURM«. Künstlerinnen der Moderne, Berlin. ↩︎
  7. Vgl. etwa Ingrid Pfeiffer (Hg.): Fantastische Frauen: Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo, Kat. Ausst. Schirn Kunsthalle Frankfurt (13. Februar bis 15. Juli 2020), München 2020. ↩︎
  8. Vgl. Nancy Mowll Matthews (1998): Mary Cassatt. A Life, New Haven, Conn. u.a., S. 82. ↩︎
  9. Vgl. Judith Barter (Hg.): Mary Cassatt. Modern Woman, Kat. Ausst. The Art Institute of Chicago (10. Oktober 1998 bis 10. Januar 1999) / Museum of Fine Arts (14. Februar bis 9. Mai 1999) / National Gallery of Art (6. Juni bis 6. September 1999), New York / London 1998, S. 84. Kompositorisch lehne sich Cassatts „Der Brief“ an Kitagawa Utamoros „Hinzaru of the Keizetsuro“ (Ende 18. Jh.) an. ↩︎
  10. Laut der Münter-Biographin Gisela Kleine sind Blumen bei Münter stets Ausdrucksträger. Vgl. Gisela Kleine (1994): Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares, Frankfurt am Main / Leipzig, S. 494. ↩︎
  11. Barbara Wörwag (1999): Gabriele Münter 1877–1962, in: Kat. Ausst. Gabriele Münter. Eine Malerin des Blauen Reiters. Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafik (Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, 3. Juli 1999 bis 19. September 1999), hg. von Herbert Eichhorn und Barbara Wörwag, Ostfildern-Ruit 1999, S. 11–49, hier: S. 38. Wörwag bezieht sich hier auf Kleine 1994. Kleine schildert in ihrem Buch eindrücklich die Entfremdung des Paares, die anhand des Briefwechsels nachvollzogen werden kann. ↩︎
  12. Münter war enttäuscht darüber, dass Kandinsky die ihr versprochene Ehe auch nach der Scheidung von seiner Frau Anja nicht einlöste. Vgl. Wörwag (1999), S. 36. ↩︎
  13. Ebd., S. 37. ↩︎
  14. Dorothea Tanning war die letzte Ehefrau von Max Ernst. Sie hatten sich 1942 in New York kennengelernt und heirateten 1946 in einer Doppelhochzeit mit Man Ray und Juliet Browner. Vgl. Jürgen Pech (2003): Max Ernst. Graphische Welten. Die Sammlung Schneppenheim, Köln, S. 107. ↩︎
  15. Der Blick durch das Schlüsselloch, die Lust am Heimlichen und das Voyeuristische hieran werden besonders augenscheinlich in Marcel Duchamps Installation „Ètant donnés: 1. La chute d’eau, 2. Le gaz d’éclairage“ (1966). Tanning baute später ein Haus mit Swimming Pool in Form eines Schlüsselochs, in dem sich der Himmel spiegelte. Vgl. Pech (2003), S. 366. ↩︎
  16. Liebesbriefe spielen in Dorothea Tannings Beziehung zu Max Ernst eine wichtige Rolle, wie ein kurzer Abschnitt aus ihren Memoiren verdeutlichen mag: “If he ventured outside of me, he knew he had not to lock the door. At these rare times we wrote letters, daily. They brought a different charm into the house, they mocked the opaque background of absence. They said things we never said out loud.” Dorothea Tanning (2001): Between Lives: An Artist and Her World, New York, S. 68. ↩︎
  17. Vgl. Isabelle Schwarz: „ICH WOLLTE ALLES ZEIGEN. Mein Herz, meine Gefühle.“ Die Briefe von Niki de Saint Phalle und die gesellschaftspolitische Wirkmacht von Liebesbriefen, in: Patricia Hartmann / Alessandra Nappo (Hg.): Zwischen den Zeilen. Kunst in Briefen von Niki de Saint Phalle bis Joseph Beuys, Kat. Ausst. Sprengel Museum Hannover (10. Mai bis 27. August 2017), S. 9–15, hier: S. 15, Fußnote 1. ↩︎
  18. Auf den Kunstcharakter der Briefe geht auch Lea Kamecke ein, die jedoch auf die gemeinschaftlich verfassten Briefe Nike de Saint Phalles und Jean Tinguelys an Dritte fokussiert. Vgl. Lea Kamecke: Kunstkommunikation – Briefzeichnungen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely, in: Bloum Cardenas (Hg.): Niki & Jean. L’art et l’amour, Kat. Ausst. Sprengel Museum Hannover (25. September 2005 bis 5. Februar 2006) / Museum Tinguely Basel (29. August 2006 bis 21. Januar 2007), München / Berlin 2005, S. 202–209. ↩︎
  19. Sophie Calle (2010): „The Rival“, in: True Stories. Hasselblad Award 2010, Göttingen, S. 82. ↩︎
  20. Sophie Calle (2010): „Journey to California“, in: True Stories, Hasselblad Award 2010, Göttingen, S. 96. ↩︎
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