von Dr. Helmut Schmiedt (Universität Koblenz)

Zunächst einmal möchte ich eine Binsenweisheit von mir geben: Liebesbriefe spielen in der Literatur eine herausragende Rolle. Natürlich haben sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller aller Zeiten dieser interessanten Art von Texten bedient, wie sollte es anders sein? Bei einer literaturgeschichtlichen Differenzierung dürfte diese Tradition ihren Höhepunkt in der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts erreicht haben, die zum erheblichen Teil aus Briefromanen zu erotisch geprägten Themen bestand und damit der epischen Gattung Roman zum internationalen Durchbruch verhalf: von Samuel Richardsons1 Pamela (1740) aus England über Rousseaus2 Julie oder die neue Heloise (1761) aus Frankreich bis zu Goethes3 Die Leiden des jungen Werther (1774), seinem größten Bucherfolg überhaupt. Aber auch noch in der neuesten Literatur spielen Texte dieser Art eine bemerkenswerte Rolle, wobei hier oft nicht mehr die traditionelle Briefform verwendet wird, sondern neue Wege schriftlicher Kommunikation zum Zug kommen, Mails, SMS usw.

Im vergangenen Jahr erschien z.B. der Bestseller Noch wach? von Benjamin Stuckrad-Barre, eine Art Schlüsselroman über die sexistischen Umtriebe des Redakteurs eines Boulevardmediums; der Titel zitiert eine SMS dieses Mannes, mit der eine junge Mitarbeiterin zu dem eingeladen wird, was man früher ein Schäferstündchen4 nannte. Selbstverständlich bestehen all diese Romane nicht nur und meistens nicht einmal in erster Linie aus Liebesbriefen, aber sie tauchen doch immer wieder darin auf und treiben das Geschehen voran.

Auf einen der genannten Texte werde ich gleich noch näher zu sprechen kommen.

Liebesbriefe in der Literatur vs. Liebesbriefen von realen Menschen

Man muss allerdings – und das ist nun sehr wichtig – eine grundsätzliche Unterscheidung vornehmen zwischen Liebesbriefen, die von empirischen Menschen in ihrem Alltagsleben verfasst werden, und solchen, die in der Literatur auftauchen, also von fiktiven Figuren stammen (hinter denen natürlich in letzter Instanz dann doch ein empirischer Mensch steht, nämlich derjenige, der das betreffende Werk geschrieben hat). 

Reale Liebesbriefe dienen dazu, auf die Beziehung zwischen wirklich existierenden Menschen Einfluss zu nehmen. Liebesbriefe in einem Roman, einem Drama oder in einer anderen Gattung, aber auch etwa in Spielfilmen, werden dagegen als Teil einer größeren dramaturgischen Konstruktion eingesetzt und sollen die Handlung der jeweiligen Geschichte auf die eine oder andere Weise weiterbringen. Die subjektiven Intentionen der fiktiven Liebesbriefschreiberinnen und Liebesbriefschreiber mögen oft denen realiter lebender Menschen entsprechen; aber diejenigen, die sich diese Texte ausgedacht haben, ordnen sie von vornherein in einen größeren, sozusagen ästhetischen Zusammenhang ein, in dem ihnen besondere zusätzliche Funktionen zuwachsen. Das macht sie zu etwas fundamental anderem als die Liebesbriefe der Realität, auch wenn der Wortlaut dies nicht unmittelbar erschließt; das heißt, man könnte den Liebesbrief eines Romans oft für den eines wirklichen Menschen halten, aber er ist hinsichtlich der Aufgaben, die er primär erfüllen soll, eben doch etwas völlig Verschiedenes.  

Der Zweck von Liebesbriefen

Ein zweiter zentraler Aspekt kommt hinzu. Reale Liebesbriefe haben in der Regel den Zweck, glückliche, freudvolle, genussreiche, auf jeden Fall positiv stimmende zwischenmenschliche Beziehungen vorzubereiten, zu bestätigen, zu verstärken oder aber sie wiederherzustellen bzw. ihnen nachzutrauern; jedenfalls lebt die Idee des Liebesbriefs vom Ideal guter bis wunderbarer zwischenmenschlicher Kontakte. An solchen Verhältnissen aber ist ein großer Teil der Literatur nicht interessiert, und zwar deshalb, weil sie – um es ganz banal ausdrücken – zu langweilig sind. Wenn jemand mit einem Partner in einer dauerhaft harmonischen und glücklichen Beziehung lebt, mag das in der empirischen Realität so ziemlich das Beste sein, was man sich wünschen kann; für die Literatur aber – oder jedenfalls einen großen Teil der Literatur – taugt es nicht, denn die Literatur lebt davon, dass die Dinge nicht wunschgemäß laufen, dass etwas nicht stimmt bis hin zu katastrophalen Verwerfungen, dass die Ordnung aus den Fugen gerät oder dass zumindest ernsthafte Bedrohungen dieser Art auftauchen. Eine perfekte Liebesbeziehung, in der auf der geistigen, emotionalen und sexuellen Ebene alles bestens läuft, ist literarisch unergiebig; viel interessanter sind da Störungen, denn erst die bieten den Stoff für ein erzählenswertes Geschehen.
Das gilt übrigens sogar für den Bereich trivialer und kitschiger Phantasieprodukte: Auch da laufen die Dinge zwischendurch aus dem Ruder, denn sonst gäbe es nichts, womit man das Publikum unterhalten kann – nur stellt sich in diesen Fällen am Ende meistens eine perfekte Lösung für alle Probleme ein. 

Liebesbriefe im Unterschied: Literatur vs. Realität

Ich halte noch einmal pointiert fest, was Liebesbriefe in der Literatur von Liebesbriefen in der Realität unterscheidet: Sie – die literarischen Liebesbriefe – dienen also als Teil eines größeren dramaturgischen Zusammenhangs; und dieser Zusammenhang ist meistens einer, der vom Interesse der Literatur an den Schattenseiten und Missständen des menschlichen Lebens geprägt ist. Unter diesen Voraussetzungen kommt es oft zu sehr eigenartigen literarischen Verwendungen von Liebesbriefen. Ich möchte drei markante Beispiele aus kanonischen Texten der deutschen Literaturgeschichte vorstellen, die jeweils zu einem düsteren Finale führen. Wir müssen uns also, dem Thema Liebesbriefe zum Trotz, für eine ausgesprochen unerotische Stimmung wappnen. 

Liebesbriefe in der Literatur: Fontanes Effi Briest

Mein erstes Beispiel ist der Roman Effi Briest von Theodor Fontane5 aus dem Jahr 1895. Die Titelfigur heiratet zu Beginn einen Mann namens Innstetten, der erheblich älter ist als sie, und verbringt mit ihm die erste Phase ihrer Ehe in einem entlegenen Kaff irgendwo in der Provinz. Dort ist es furchtbar langweilig, die Eheleute haben auch nicht den besten Draht zueinander, und so lässt sich Effi auf eine heimliche Affäre mit einem anderen Mann ein, der solche Beziehungen offenbar routinemäßig anknüpft. Ein großer beruflicher Karriereschritt Innstettens führt ihn und Effi dann nach Berlin, und mit dem Ehebruch ist es sofort vorbei. In der großen Stadt scheint die Ehe zufriedenstellend bis gut zu verlaufen, jedenfalls ohne Beeinträchtigungen durch einen Dritten; der Erzähler sagt darüber nicht viel, ganz entsprechend der eben getroffenen Feststellung, dass reibungslos verlaufende Angelegenheiten literarisch uninteressant sind.

Titelblatt der ersten Buchausgabe: Effi Briest. Roman von Theodor Fontane. Berlin W  F. Fontane & Co. 1896

Nach mehreren Jahren aber entdeckt Innstetten durch einen dummen Zufall die Liebesbriefe, die Effi einst von ihrem Liebhaber erhalten hat, und wird damit über ihr lange zurückliegendes Vergehen aufgeklärt. Daraufhin fordert er den Liebhaber zum Duell, erschießt ihn, trennt sich von seiner Frau und entzieht ihr die gemeinsame Tochter. Die entlarvte Sünderin darf zunächst nicht einmal zu ihren Eltern zurückkehren, bis ein mitfühlender Arzt, der ihr stetig zunehmendes Leid beobachtet, dafür sorgt, dass dies doch möglich wird. Bald danach stirbt Effi, mehr oder weniger an gebrochenem Herzen und mit viel Verständnis für den Ex-Gemahl, der sich eigentlich nur den geltenden Konventionen gemäß verhalten habe. 

Wir lernen aus dieser Geschichte, dass man sich immer genau überlegen sollte, welche persönlichen Zeugnisse man aus einer Lebensphase in eine andere mitnimmt: Potenziell verräterische Briefe sollte man lieber wegwerfen, entsprechende Mails löschen.

Übrigens zeigt auch diese Geschichte, wie sehr die Literatur von der Dramatisierung der Verhältnisse lebt. Fontane hat sie in Anlehnung an einen realen Skandal in der vornehmen Berliner Gesellschaft entworfen. Aber das historische Vorbild seiner Effi, eine Frau namens Elisabeth von Ardenne (1853–1951)6, starb keineswegs blutjung, sondern überlebte sowohl ihren Ex-Mann als auch den Autor Fontane, erlernte einen Beruf, übte ihn aus, fand eine langjährige Lebensabschnittsgefährtin und wurde 98 Jahre alt – Effi nicht einmal dreißig. Edgar Allan Poe hat einmal angemerkt, es gebe kein poetischeres Thema als den Tod einer schönen Frau.

Dass die Liebesbriefe, die Innstetten nachträglich Effis Untreue verraten, eine derart unheilvolle Rolle spielen, ist also ein Ergebnis der Handlung, die sich Theodor Fontane mit Hilfe von Anregungen aus der Wirklichkeit ausgedacht hat. 

Liebesbriefe in der Literatur: Schillers Kabale und Liebe

In meinem zweiten Beispiel, Friedrich Schillers7 Drama Kabale und Liebe aus dem Jahr 1784, richtet ein einziger Liebesbrief ebenfalls größtes Unheil an. Aber hier liegen die Dinge ganz anders: Erstens ist der Liebesbrief kein echter, und zweitens planen Figuren des literarischen Werks selbst seine fatale Wirkung ein und stellen sie in den Dienst finsterer Pläne. Schiller gilt übrigens als ein Meister im Einsatz von Briefen unterschiedlichster Art: Immer wieder tauchen sie in seinen Dramen auf, und meistens sind es keine, über die sich die dramatis personae8 freuen können.

Titelblatt der Erstausgabe: Kabale und Liebe ein bürgerliches Trauerspielin fünf Aufzügen von Friedrich Schiller. Mannheim, in der Schwanischen Hofbuchhandlung, 1784.

In Kabale und Liebe geht es um eine Liebesbeziehung zwischen dem Adligen Ferdinand von Walter und dem bürgerlichen Mädchen Luise, Tochter eines Musikers. Ferdinand möchte Luise heiraten, obwohl eine solche ständeübergreifende Verbindung damals eigentlich unmöglich war. Insbesondere Ferdinands Vater will das in seinen Augen törichte Verhalten des verliebten jungen Mannes hintertreiben und zwingt im Verlauf einer raffinierten Intrige Luise dazu, einen Liebesbrief an einen anderen Mann zu schreiben, mit dem sie überhaupt nichts im Sinn hat. Dieser Brief wird Ferdinand zugespielt, der daraufhin in tiefste Empörung gerät, die vermeintlich untreue Geliebte vergiftet und sich auch selbst umbringt, aber kurz vor seinem Tod immerhin noch die Wahrheit erfährt. Das Motiv der ständeübergreifenden Beziehung ist in der Strömung des Sturm und Drang, dem Kabale und Liebe angehört, in den verschiedensten Variationen immer wieder durchgespielt worden, manchmal ergänzt um zusätzliche Komplikationen, wie die Geburt eines unehelichen Kindes, und fast immer führt es, wie hier, zu einem tragischen Ausgang: aus Sicht der Autoren sicherlich ein Zeichen dafür, wie sehr individuelle Glücksansprüche durch äußere Konventionen und Zwänge unterdrückt werden. 

Ferdinand von Walter, Kupferstich von Conrad Geyer, nach einer Zeichnung von Arthur von Ramberg, aus Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. Charaktere aus Schiller’s Werken, gezeichnet von Friedrich Pecht und Arthur von Ramberg. Funfzig Blätter in Stahlstich mit erläuterndem Text von Friedrich Pecht. F. A. Brockhaus, Leipzig, 1859.
Luise Miller, Stahlstich um 1859 von Conrad Geyer, nach einer Zeichnung von Arthur von Ramberg.

Ich habe eben eine handfeste Lehre aus Effi Briest gezogen. Auch aus Kabale und Liebe ergibt sich eine solche: Trau nichts und niemandem und auch keinem Liebesbrief – er könnte ein Fake sein. Aber das müssten aufgeklärte Menschen heute eigentlich noch besser wissen als diejenigen zu Schillers Zeit.

Hinzugefügt sei, dass der Text von Luises falschem Liebesbrief dem Publikum komplett mitgeteilt wird, denn das fatale Schreiben wird ihr diktiert und die Szene, in der dies geschieht, auf der Bühne präsentiert. Was Effis Liebhaber an Effi schreibt, bekommt das Romanpublikum in charakteristischen Auszügen vorgesetzt.

Die Liebesbriefe in Fontanes Roman und Schillers Drama stehen also in einem Kontext, der den Hauptfiguren den Tod bringt.

Liebesbriefe in der Literatur: Goethes Die Leiden des jungen Werther

Das gilt auch für mein letztes Beispiel, den eben schon erwähnten Goethe-Roman Die Leiden des jungen Werther, der 1774, zehn Jahre vor Kabale und Liebe, erschien. Er behandelt neben anderen Aspekten die Liebe, die die Titelfigur gegenüber einer jungen Frau namens Lotte empfindet; sie ist Werther zwar sehr zugeneigt, aber mit einem anderen Mann verlobt und später verheiratet und denkt nicht daran, diese Beziehung aufzugeben oder etwa heimlich mit Werther intime Kontakte zu pflegen. Nach anderthalbjähriger Bekanntschaft, während der die Lage immer komplizierter wird, erschießt sich Werther, und zwar einen Tag vor Heiligabend, ein Datum, über das man endlos spekulieren kann.

Der Werther ist ein Briefroman, enthält ausschließlich Briefe Werthers, und natürlich steht in deren Zentrum immer wieder seine Zuneigung zu Lotte. Der Clou des Textes besteht aber nun darin, dass diese Briefe – mit einer einzigen, eher unerheblichen Ausnahme – nicht an Lotte gerichtet sind, sondern an einen Freund Werthers namens Wilhelm; Wilhelms Antwortbriefe sind nicht wiedergegeben, aber manchmal kann man aus Werthers Reaktionen erschließen, was er Werther zuvor geschrieben hat. Es handelt sich also um einen sogenannten monoperspektivischen Briefroman, was damals ebenso ungewöhnlich war wie die auf den Tag genaue Datierung der Briefe. Üblich waren im Genre eher die Wiedergabe der Schreiben verschiedener Verfasserinnen und Verfasser, also polyperspektivische Briefromane, und weniger präzise Zeitangaben.

Unter diesen Vorzeichen kann Werther, der dem Freund nahezu unbegrenzt vertraut, seine Empfindungen und Gedanken mit großer Offenheit darlegen, offener sicher, als wenn er sich an Lotte gewandt hätte, bei der er sich doch immer zu einer gewissen Zurückhaltung hätte zwingen müssen, denn letztlich respektiert er ja nach außen ihre Bindung an einen anderen. Damit erfahren wir – vermutlich erstmals in der deutschen Literatur – Genaueres über die heiklen Umstände und Abgründe einer gewaltigen erotischen Obsession, über unbezähmbare Leidenschaft, seelische Qualen und hanebüchene innere Kämpfe. Werther redet sich manchmal ein, dass er doch eigentlich keinerlei unkeusche Gedanken in Bezug auf Lotte hegt, aber im nächsten Augenblick kommt er sich selbst in die Quere und gerät schier aus dem Häuschen, wenn er nur etwas anfasst, das sie vorher berührt hat; ihre sinnliche Ausstrahlung auf ihn ist überwältigend. Ebenso bewegt es ihn zutiefst, als sie ihn erstmals ganz nebenbei mit der harmlosen Formel „Lieber Werther“ anredet. 

Lotte im Portrait sowie eine vielfach illustrierte Szene aus dem Briefroman: Werthers erste Begegnung mit Lotte in der “Brotschneide-Szene”, Kupferstich nach Daniel Chodowiecki u. Daniel Berger, 17759
Werther im Portrait sowie die Szene der gemeinsamen Ossian-Lektüre, Kupferstich nach Daniel Chodowiecki u. Daniel Berger, 177510

Er pflegt verschiedenste Interessen, von der Liebe zu Naturlandschaften bis zur intensiven Lektüre alter und neuer Literatur, aber er muss feststellen, dass seine Gedanken immer mehr und schließlich fast nur noch um die Geliebte kreisen. Er nennt ihren Verlobten und Ehemann seinen Freund, aber einmal räumt er ein, dass ihm dessen Ermordung durch den Kopf gegangen sei. Lottes Überlegung, es gebe doch viele andere sympathische weibliche Menschen außer ihr, denen er sich nähern könnte, weist er als völlig irrelevant zurück, und der Versuch, sich von Lotte zu lösen, indem er sich von ihr entfernt und anderswo eine Berufstätigkeit aufnimmt, scheitert nach kurzer Zeit – er kehrt zurück an den Ort, in dem sie lebt. In seinem Abschiedsbrief notiert Werther die merkwürdige Absicht, er werde im Jenseits auf Lotte warten, bis sie dort mit ihm vereinigt ist. 

Ich muss bekennen, dass ich seit langem ein großer Fan dieses Romans bin, und zwar eben deshalb, weil er Werthers Verhältnis zu Lotte derart subtil und radikal ausleuchtet; dabei ist mir bewusst, dass er manchen Leuten wie ein hochgestochener Schmachtfetzen erscheint. Unter literaturhistorischen Vorzeichen ist generell wichtig, dass hier ein im Kern durchaus sympathischer Mensch porträtiert wird, der – ähnlich wie später Ferdinand von Walter in Schillers Kabale und Liebe – den Versuch unternimmt, sich nicht von Konventionen, gesellschaftlichen Vorgaben, biografischen Weichenstellungen durch die eigene Herkunft und solche Dinge fremdbestimmen zu lassen, wie es damals weithin üblich war und auch in der Literatur durchweg gespiegelt wurde; Werther sagt vielmehr ganz entschieden „Ich“, wenn es darum geht, wie sein Leben verlaufen soll, setzt auf die Besonderheiten und Neigungen seiner Individualität, aber der Roman zeigt im Hinblick auf die Psyche des Protagonisten wie auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt, welche Probleme sich aus einer solchen Haltung ergeben. Dass die Liebe zu Lotte, die in diesem Zusammenhang die maßgebliche Rolle spielt, nicht durch Briefe an sie, sondern an einen Dritten wiedergegeben wird, ist mehr oder weniger die Voraussetzung für die intensive Entfaltung dieser Thematik. 

Liebesbriefe zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern

Ganz zum Schluss möchte ich nur kurz noch darauf hinweisen, dass es natürlich einen weiteren großen Komplex gibt, wenn es um das Thema Literatur und Liebesbrief geht: die Liebesbriefe, die prominente Menschen der schreibenden Zunft in ihrem Privatleben an andere, ebenso real existierende Menschen gerichtet haben.
Da finden sich berühmte Beispiele, etwa die Korrespondenz, die im Mittelalter der bedeutende Theologe Abaelard11 mit seiner Schülerin Héloise12 geführt hat. Auch neuere Damen und Herren der Literaturgeschichte haben entsprechend kommuniziert, und der Voyeur in uns allen ist immer neugierig, zu erfahren, was dabei herausgekommen ist. 

Ich habe kürzlich z.B. die Briefwechsel gelesen, die die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann13 mit zweien ihrer zahlreichen Partner aus der Kulturgeschichte der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg führte, mit den renommierten Schriftstellern Paul Celan14 und Max Frisch15. Mein Eindruck ist der, dass die Probleme, mit denen sich diese Geistesgrößen herumplagen, letztlich gar nicht so sehr von denen anderer Menschen mit amourösen Verstrickungen unterscheiden. Allerdings kommt hier etwas hinzu, das ihnen das Leben in solchen Situationen nicht gerade erleichtert: Als virtuose Sprachkünstler formulieren sie in ihren Briefen oft so, dass die Dinge, mit denen sie zu kämpfen haben, noch komplizierter erscheinen. Das ist jetzt allerdings keine wissenschaftliche These, sondern nur mein spontaner Eindruck aus der Lektüre dieser Liebesbrief-Bände, und mehr kann ich zu diesem Thema im Augenblick nicht sagen.  


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  1.  Samuel Richardson (1689–1761), englischer Schriftsteller, vgl. Richardson, Samuel, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118600346.html [15.02.2024].  ↩︎
  2. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Philosoph, Schriftsteller, Pädagoge, Musiktheoeretiker, Botaniker, Vordenker der Aufklärung, vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118603426.html [15.02.2024].  ↩︎
  3. Johann Wolfgang (von) Goethe (1749–1832), bekanntester Dichter der deutschen Sprache. Flitner, Wilhelm, „Goethe, Johann Wolfgang von“ in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 546–575 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118540238.html#ndbcontent [15.02.2024].  ↩︎
  4.  Veralteter, oft scherzhafter Ausdruck für ein “kurzes, zärtliches, ungestörte Beisammensein von Verliebten” vorrangig mit der Intention einer intimen Begegnung, „Schäferstündchen“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Sch%C3%A4ferst%C3%BCndchen>[15.02.2024].  ↩︎
  5. Theodor Fontane (1819–1898) war Schriftsteller und Journalist. Er gilt als Vertreter des Realismus. Schreinert, Kurt, „Fontane, Theodor“ in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 289–293 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118534262.html#ndbcontent [15.02.2024]. ↩︎
  6. Ardenne, Elisabeth von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118701940.html [15.02.2024]. ↩︎
  7. Neben Goethe zählt Friedrich Schiller (1759–1805) zu den bedeutendsten deutschen Dichtern. Mit Kabale und Liebe, dessen ursprünglicher Titel nach der tragischen Protagonistin Louise Millerin benannt war, zeigt Schiller den einzigen “Versuch, politische Verhältnisse und Standesunterschiede seiner Zeit dramatisch zu behandeln”, Oellers, Norbert, „Schiller, Friedrich von“ in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 759–763 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118607626.html#ndbcontent [15.02.2024]. ↩︎
  8. Meint die Personen/Figuren, die in einem Drama auftreten, vgl. „Dramatis Personae“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Dramatis%20Personae> [16.02.2024]. ↩︎
  9. Jäger, Georg (Hg., 1984): Die Leiden des alten und neuen Werther: Kommentare, Abbildungen, Materialien zu
    Goethes Leiden des jungen Werthers und Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen W., München 1984, S. 57–105 , S. 190-208 (Literatur-Kommentare; 21) Online-Veröffentlichung auf ART-Dok (2021), DOI:
    https://doi.org/10.11588/artdok.00007500, S. 58. ↩︎
  10. Ebd., S. 71. ↩︎
  11. Peter Abaelard (1079–1142) war französischer scholastischer Philosoph. Vgl. Brockhaus Enzyklopädie Online, Peter Abaelard. https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/abaelard-peter, [19.02.2024]. ↩︎
  12. Héloise (1101–1164) war französische Nonne, Schülerin, Geliebte und heimliche Gemahlin des Abaelard. Diese Geschichte diente als Inspiration für Rousseaus Julie oder die neue Heloise (vgl. FN 2).  Vgl. Brockhaus Enzyklopädie Online, Héloise. https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/heloise, [19.02.2024]. ↩︎
  13. Ingeborg Bachmann (1926–1973) war eine österreichische Schriftstellerin, die zu Lebzeiten v.a. durch ihre Lyrik bekannt wurde. Vgl. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk, „Bachmann, Ingeborg“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118505602.html#dbocontent, [19.02.2024].  ↩︎
  14. Paul Celan (1920–1970) war ein tschechischer Schriftsteller und Übersetzer. Vor allem bekannt ist er für seine Lyrik der Nachkriegsliteratur; die Todesfuge ist als berühmtes Beispiel zu nennen. Vgl. Wiedemann, Barbara, „Celan, Paul“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118519859.html#dbocontent [19.02.2024]. ↩︎
  15. Max Frisch (1911–1991) war Schweizer Schriftsteller und Architekt. Bekannt wurde er vor allem durch seine Werke Andorra und Homo Faber. Vgl. Chmura, Nadine/Haunhorst, Regina/Zündorf, Irmgard: Biografie Max Frisch, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/biografie/max-frisch.html, [19.02.2024]. ↩︎
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