von Dr. Erwin Kreim (Mainz)

Johannes Gutenberg löste mit seinen Erfindungen die erste Medienrevolution aus, obwohl keine einzige Zeile gefunden wurde, die ihm selbst zugeschrieben werden kann. Ob er selbst verliebt war, darüber wird in einem Musical1 spekuliert, aber sicher ist, dass er neben der Erfindung des Papiers die schriftliche Kommunikation – und dabei ganz besonders den schriftlichen Austausch zwischen Liebenden – befördert hat.

Um 1455 erfolgte der berühmte Bibeldruck in Mainz. Dieses Ereignis veränderte die Welt in fast allen Wissensbereichen, es gab nicht nur eine Wissensexplosion, sondern auch der Austausch zwischen Herrschern, Wissenschaftlern, Freunden veränderte sich durch die Möglichkeiten der Vervielfältigung schriftlicher Kommunikation. Mainz war das Zentrum der Erfindung, aber die wirtschaftlichen Möglichkeiten waren wegen der ständigen Kämpfe zwischen Bürgern, Zünften, Patriziern und Klerikern schlecht. Als es dann in der so genannten ‚Mainzer Stiftsfehde‘ zu Hunderten von Toten kam, verließen viele Miterfinder aus Gutenbergs Team Mainz.2

Über die frühen Drucke von Briefstellern

So gingen z.B. die Brüder Johann und Wendelin de Spira (von Speyer) nach Venedig, fünfmal größer als Mainz, reich geworden durch Seehandel. Dort wollten sie ihre in Mainz erworbenen Kenntnisse umsetzen und gründeten 1466 eine Druckerei. Was sollten sie drucken, um Geld zu verdienen? Sie entschieden sich für ein Buch über Regeln zum Briefeschreiben (Cicero: epistolae familiares). Offenbar haben sie den Bedarf richtig eingeschätzt, denn noch im gleichen Jahr mussten sie eine zweite Auflage drucken – die Menschen wollten schriftlich kommunizieren, wussten aber nicht wie, denn man betrat Neuland.

Bekannte Wissenschaftler, Rektoren der neuen Universitäten, ließen ihre bisherigen Vorlesungen über Rhetorik und Briefeschreiben nun drucken, z.B. Virus Carolus (Manecken), war Professor der berühmten Universität Leuven an der Kaiser Karl ausgebildet wurde. Er ließ 1479 seine Vorlesung über das Briefeschreiben drucken und es folgten in den nächsten 40 Jahren mehrere Auflagen. Natürlich gab es darin auch ein Kapitel über Liebesbriefe.3

Die meisten Frühdrucke enthielten neben den zahlreichen Anleitungen zum Briefeschreiben meist Kapitel über Liebesbriefe. In zunehmendem Umfang wurden auch Briefe in deutscher Sprache verfasst, was wesentlich zur Vereinheitlichung der vielen Sprachen im deutschen Sprachraum beitrug. Martin Luther benutzte die ‚Sächsische Kanzleisprache‘ für seine vielen Briefe.

Ab 1670 (Butschky) setzte sich für diese Buchgattung der Begriff „Briefsteller“ durch, abgeleitet vom Akteur, dem Briefschreiber – Briefsteller – in Analogie zum Schriftsteller.

Regeln für Liebesbriefe in frühen Briefstellern

Konrad Celtis wird gerne als deutscher „Erzhumanist“ bezeichnet, da er die Universität Heidelberg zu einem bedeutenden Zentrum des Humanismus prägte. Auch er verfasste schon 1492 in Ingolstadt ein Traktat über Briefe (Traktatus condendens epistolis) und vier Bücher Liebesgedichte (Quattor libri armarum).

Der Venezianer Franceco Niger (Nigri) verfasste 1488 in Venedig eine Briefschreiblehre4, die vielfach in bedeutenden Handelsstädten nachgedruckt wurde. Aus der 1502 in Nürnberg gedruckten Ausgabe sollen Briefdefinition und die Regeln für ehrenhafte und schändliche Briefe zitiert werden:

Originalseite, aus der die Übersetzungen stammen. Francesco Niger (Negri): Ars scribendarium epistolarum elegantissima declarata, Nürnberg, 1502 (Erstaufl. Venedig 1488)

„Der Brief ist eine Rede in Prosa, die abwesende Freunde zu anwesenden macht und sowohl zum Nutzen wie zum Vergnügen genial erdacht wurde […].“ 

Es werden dann 20 verschiedene Briefgattungen unterschieden, die sechste Gattung behandelt die Liebesbriefe:

Liebesbriefgattung. Kapitel VI:

Die Gattung des Liebesbriefs ist jene, die zur Erklärung unserer Liebe zu einem Freund verfasst wird, den wir zu lieben getrieben werden. Und die Arten dieser Gattung sind zwei, eine ehrenhafte, die andere jedoch eine schändliche.

Regeln für den ehrenhaften Brief:

Wenn wir einen Liebesbrief, der als ehrenhaft bezeichnet wird, an eine Person schreiben wollen, wollen wir sie grundsätzlich in drei Teile einteilen. 

Im ersten werden wir uns um das Wohlwollen der Person bemühen, an die wir schreiben, indem wir ihre Tugenden oder ihre Rechtschaffenheit loben, um derentwillen wir sagen, dass wir veranlasst wurden, ihn nicht nur zu lieben, sondern auch zu achten. 

Im zweiten Teil werden wir erklären, dass auch wir wegen solcher Tugend und der besten Bedingungen jenes Mannes veranlasst wurden, ihn zu lieben. 

Im dritten Teil aber werden wir, je offener wir es können, unsere Liebe und unser Wohlwollen zu einem solchen Mann darlegen, und gleichermaßen werden wir ihm anbieten, dass unser ganzer Sinn ihm in all seinen Wünschen mit dem größten Vergnügen bereitsteht. Und wir werden ihn bitten, auch selbst gleichen Sinnes uns gegenüber zu sein. Wir werden vollends versichern, dass jene Freundschaft ewig sein wird, die wir durch beständige Gewohnheit und die Wechselseitigkeit der Verdienste bekräftigen wollen.

Die Regel für den schändlichen (lasterhaften) Brief:

Der Liebesbrief, der schändlich genannt wird, ist jener, der an eine Freundin oder Schöne von ihrem Liebhaber zwecks Erklärung seiner Liebe geschickt wird.

Die Regel dieses Briefes ist folgende.

Wenn wir einen Liebesbrief, der schändlich genannt wird, an ein Mädchen schreiben wollen, werden wir ihn am besten in vier Teile einteilen. 

In dessen ersten werden wir uns um das Wohlwollen der Person bemühen, an die wir schreiben, indem wir sie mit dreifachem Lob loben, d.h. erstens wegen ihrer moralischen oder gebildeten Tugend, falls sie in den Wissenschaften gebildet ist. Zweitens von ihrer Abstammung, falls sie adlig ist wegen ihres Glücks und wegen ihres Reichtums, falls sie von niedriger Abstammung ist. Drittens wegen ihrer Schönheit, die größere Empfehlung und Wirksamkeit in der Liebe hat. 

In der zweiten werden wir uns um das Wohlwollen wegen unserer eigenen Person bemühen, indem wir erstens ohne irgendwelche Arroganz unsere Stellung darlegen, deretwegen auch das Mädchen selbst zur Liebe zu uns bewegt wird. Dann werden wir ihr (soweit wir es ehrenhaft vermögen) die Liebe und das Wohlwollen erklären, von der wir uns zu ihr hingezogen fühlen. 

Im dritten aber werden wir sie bitten, vollends unseren Bitten nachzugeben und uns ebenso zu lieben, wie wir sie lieben, indem wir diese Liebe preisen und sagen, dass sie eher etwas Göttliches als etwas Menschliches ist, und zugleich ein Beispiel anderer Mädchen anführen, die in Liebe versetzt ein glückliches Leben erlangt haben. 

Im vierten und letzten werden wir sie in Angst vor einem Schaden versetzen, falls sie nicht einer solchen Liebe nachgeben will, und zugleich werden wir durch die Beispiele von Frauen bekräftigen, die, weil sie sich der Liebe nicht hingeben wollten, ihr Leben grausig beendeten, und unsere Freundin in solche Angst und schließlich zur Liebe hinlenken, damit ihr kein Unglück widerfährt, wobei wir ihr unsere ganze Fürsorge anbieten werden, die ihr mit aller Ehrenhaftigkeit bereit steht.

In Beispielen wird ein ehrenhafter Brief unter Männern abgedruckt und beim unehrenhaften handelt es sich um ein Beispiel an eine Frau.

500 Jahre alte Regeln für den Liebesbrief – und die Forderung nach Individualisierung

Bemerkenswert ist, dass der große europäische Humanist Erasmus von Rotterdam in seiner 1522 gedruckten Brieflehre die Regeln von Niger weitgehend übernommen hat.5

In einem Brief an seinen Freund Nicolas Bèraud aus Orléans beschreibt Erasmus, dass er bereits in seiner Studienzeit in Paris sein Studium durch Briefeschreiben finanziert hat.6 Er hat seinen Schülern Muster gegeben und ein unehrlicher Freund Hononius habe diese dann an Drucker verkauft, die sie druckten.

„Allein wie ich sehen muß, kennen die Verleger keinerlei Hemmungen mehr. seitdem sie merken dass die läppischstem Kleinigkeiten reißenden Absatz finden, gleichzeitig aber die guten alten Autoren unbeachtet bleiben, handeln sie bar jeder Scham nach dem bekannten Motto aus einer Satire: >Gewinn riecht in jedem Fall gut<. […] So etwas soll mir nicht öfter widerfahren. […] Was die Verleger angeht, so kann ich nur wünschen, daß sie sich bessern.“

Er hat nicht gerade eine hohe Meinung von den Verlegern, die alles drucken, was Geld bringt, ohne Qualitätsanspruch. Nachdem der Freund gestorben war, glaubte er, dass damit das unberechtigte Drucken beendet sei, aber nein, es gab immer wieder Raubdrucke seiner Briefmuster. So entschloss er sich, selbst ein Brieflehrbuch 1522 in Basel drucken zu lassen. Das Werk erlebte über 80 Auflagen in mehr als 140 Jahren – ein absoluter Beststeller, der auch heute noch in der Übersetzung genüsslich zu lesen ist.7

Titelkupfer: Liber utilitissimus concribendis epistolae [Allernützlichstes Buch zum Briefeschreiben] Amsterdam 16368

Erasmus stellt für Liebesbriefe folgende, nunmehr 500 Jahre alte Regeln auf:

„[…] Wenn man aber in einem Mädchen Gegenliebe erwecken will, wird man vornehmlich zwei Angriffswaffen benutzen, Lob und Mitgefühl […].
Ferner wird man, da dieses Geschlecht ja weitherzig ist und sich leicht zu Mitgefühl rühren lässt, sich bemühen, den Eindruck eines möglichst armen Bittstellers zu erwecken […].
Schmeichelwörter, Tränen, Klagen, Seufzer, Träume und so weiter, Dinge, die zwar nicht unanständig sind, aber eher läppisch und einer Form der Verderbtheit nahestehen. Solche der Jugend als Thema vorzulegen, ist doch wohl wenig förderlich […].
Hier könnte man wohl sein Talent zeigen und Wege ersinnen, wie sich jemand ins rechte Licht rücken kann, ohne den Anschein der Überheblichkeit oder Dummheit zu erwecken […]“

Erasmus von Rotterdam: De Amatoria Epistola [Der Liebesbrief]. Übersetzungen
von Prof. em. Dr. Jürgen Blänsdorf, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
.

Generell rät Erasmus, dass man ebenso wenig wie ein Schuster über einen Leisten Schuhe für jeden Fuß machen kann, so sollen auch Liebesbrief individuell geschrieben werden. 

Erasmus und Celtis kritisieren in ihren Schriften um 1500 den Bildungsnotstand der Frauen und so reift bei Celtis sein Entschluss, seiner Geliebten Sprachunterricht zu geben. Sein Ausbildungsziel ist aber „[…] wohl letztlich nicht die lateinische Rhetorik, sondern die Erotik im Stil der >Ars amartoria<.“9

Beispiele der Briefsteller-Sammlung des Gutenberg-Museums

In der „Briefsteller-Sammlung“ des Gutenberg-Museums Mainz befinden sich über 500 Bücher aus sieben Jahrhunderten. Diese ‚verborgenen Schätze‘ werden in einem reich bebilderten Buch beschrieben10, deshalb sollen hier nur zwei Bücher herausgehoben werden:

Es ist bis dahin das umfangreichste gedruckte Werk und umfasst alle Bereiche des privaten und geschäftlichen Lebens, inklusive eines Liebesbriefkapitels. Es handelt sich um ein drucktechnisches Meisterwerk und beeindruckt durch seine Wissenschaftlichkeit. Heute kann man sich kaum vorstellen, wie das alles mit einem Federkiel vorgeschrieben wurde.

Gutenbergs Erfindung ermöglichte, diesen Wissensschatz zu vervielfältigen. Das Werk erlebte sechs Auflagen in rund 50 Jahren. Es dürfte in allen Schreibstuben gestanden haben und wurde vermutlich auch von unseren Dichterfürsten Goethe, Schiller, Lessing, Herder u.a., die alle hauptberuflich Sekretäre waren, benutzt.

Diese Beispielseite aus ‚Des Spaten Teutsche Sekretariat-Kunst‚ zeigt die druckgrafische Gestaltung und Fußnoten belegen die Wissenschaftlichkeit des Werkes

(Liebes-)Briefsteller für Frauen

Ein bis heute diskutiertes Thema ist die Emanzipation der Frauen. Auch dazu hat die Drucktechnik einen wichtigen Beitrag geleistet. Seit 1795 haben die Verleger Frauen als Zielgruppe entdeckt und „Briefsteller für Frauenzimmer“ herausgegeben.

Aber erst 1835 hat eine namentlich genannte Autorin, Amalia Schoppe, geb. Weise, einen „Briefsteller für Damen“11 veröffentlicht.

Titelkupfer: Amalia Schoppe: Briefsteller für Damen, Berlin 1835

In vielen Briefbeispielen werden emanzipierte Positionen vertreten, z.B. gegenüber einem ‚flatterhaften Geliebten‘ oder gegenüber einer Erzieherin gegen körperliche Strafen, denn sie verstoßen gegen ‚die Würde des Menschen‘. Ein Begriff, der erst 1949 in unser Grundgesetz Eingang fand.12

Gutenbergs Erfindung beschleunigte die Verschriftlichung der Sprache und damit auch die schriftliche Kommunikation, indem sie „abwesende Freunde zu anwesenden macht“ und Liebende einander näherbringt. 

Die in großer Zahl gedruckten ‚Briefsteller‘ wurden auch zur Unterhaltung gelesen.

Titelbild A. Belser: Großer Liebesbriefsteller, Reutlingen 1928

Durch Lesen entstehen bei den Leser*innen Emotionen, sie werden berührt. Darin haben die Briefsteller eine große Breitenwirkung auf die schriftliche Kommunikation. Sie ermuntern zum Schreiben und helfen bei Unsicherheiten. Das gilt bis heute. 

 Regel 5 aus Scholz & Friends (Hg.): Scholz & Friends E-Mail-Etikette. 3. Aufl. Hermann Schmidt, Mainz 2010

Die Netiquette (Etiquette der Internetkommunikation) wird oft aufgerufen, oft kopiert und KI eröffnet ganz neue Möglichkeiten. 

Katharina Zweig, die an der TU Kaiserslautern den ersten Lehrstuhl für Sozioinformatik aufgebaut hat, sagt: „Ich würde es nicht witzig finden, wenn mein Mann mir mithilfe von ChatGPT einen Liebesbrief schriebe […]. Bei einem Brief geht es doch wie bei einem Kunstwerk darum, dass ein Mensch eine Idee hatte und sich damit Mühe gegeben hat.“13

Die Techniken haben sich geändert, die Bedürfnisse sind geblieben.


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  1. Frank Golischewski: Gutenberg – Das Musical, Eltville am 09.06.2023. ↩︎
  2. Vgl. Kreim, Erwin: Johannes Gutenberg – Unternehmer des zweiten Jahrtausends, Mainz 2022, S. 40 ff. ↩︎
  3. Virulus, Carolus (Maneken): Formulae epistolarum, Straßburg 1487. ↩︎
  4. Niger, Franciscus: Ars scribendarum Epistolarum elegantissima, Nürnberg 1502. Übersetzungen von Prof. em. Dr. Jürgen Blänsdorf, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz. ↩︎
  5. Desiderius Erasmus von Rotterdam: De Ratione Conscribendi Epistolas [Die Methode des Briefeschreibens]. Hrsg. v. Werner Welzig. Zweisprachige Ausgabe, WBG Darmstadt 1980. Übersetzt v. Kurt Smolak. ↩︎
  6. Ebd., S. 5. ↩︎
  7. Ebd., S. 241. ↩︎
  8.  Ludwig, Annette (Hg.): Die Sammlung Kreim: Briefsteller – Bestseller, Verborgene Schätze des Gutenberg-Museums, Mainz 2021, S. 35. ↩︎
  9.  Hess, Ursula: Oratix humilis. Die Frau als Briefpartnerin von Humanisten. In: Der Brief im Zeitalter der Renaissance. DFG Weinheim 1983, S. 175. ↩︎
  10.  Vgl. Ludwig 2021. ↩︎
  11.  Schoppe, Amalia: Briefsteller für Damen, Berlin 1835. ↩︎
  12. Furger, Carmen: Der Brief – ein >weibliches< Medium – oder? In: Ludwig, Annette (Hg.): Die Sammlung Kreim, A.a.O, S. 102–107. ↩︎
  13.  Interview mit Katharina Zweig: „ Können wir künstlicher Intelligenz vertrauen, Frau Zweig?“ In: Die Zeit, 27. Juli 2023, Lebensfragen, S. 29. ↩︎

[Ediert am 04.10.2023]

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