von Nadine Dietz (TU Darmstadt) und Lena Dunkelmann (Universität Koblenz)

Protokollant*innen und Co-Autor*innen:
Marc Gräf, Katharina Hoffmann und Carla Seibert
(alle Universität Koblenz)

Bei der Gruß & Kuss-Abschlusstagung am 7. und 8. März kamen an der Universität Koblenz Wissenschaftler*innen, Bürger*innen und Gruß & Kuss-Bürgerwissenschaftler*innen, Studierende und Mitarbeitende zusammen, um die Ergebnisse und Erkenntnisse aus drei Jahren Projektarbeit vorzustellen und zu diskutieren. Neben dem Austausch mit anderen Citizen-Science-Projekten und Fachkolleg*innen zur (Liebes)Briefforschung stand auch eine Panel-Diskussion auf dem Tagungsprogramm, die am Ende des 1. Tagungstages stattfand und alle an der Tagung Teilnehmenden dazu einlud, mitzudiskutieren. Aufgrund des GDL-Streiks wurden die Tagung sowie die Panel-Diskussion kurzfristig hybrid gestaltet.

Das Thema der Panel-Diskussion lautete “Citizen Science in den Geisteswissenschaften – Chancen und Herausforderungen”.

Citizen Science und Geisteswissenschaften

Das Projekt Gruß & Kuss – Briefe digital. Bürger*innen erhalten Liebesbriefe war ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Bürgerforschungsprojekt, auch Citizen-Science-Projekt genannt. Citizen Science meint dabei die aktive, freiwillige Beteiligung aller am Projekt Interessierten – unabhängig ihres Alters, Geschlechts, Arbeitsverhältnisses oder Bildungsniveaus.1 Gruß & Kuss gehörte wurde in der zweiten Förderrichtlinie des BMBF2 von April 2021 bis März 2024 als eines von insgesamt 15 Citizen-Science-Projekten gefördert, wobei Gruß & Kuss eines der wenigen Projekte war, das in den Sozial- oder Geisteswissenschaften angesiedelt war.3 Jene Formen von Citizen Science subsumieren sich auch unter den Begriffen ‘Social Citizen Science’ oder ‘Citizen Humanities’4.

Ein Blick in die aktuelle deutsche wie auch gesamteuropäische Forschungslandschaft von Citizen-Science-Projekten zeigt, dass die meisten Unterfangen naturwissenschaftliche Schwerpunkte haben; sozial- oder geisteswissenschaftliche Projekte erfahren weniger Aufmerksamkeit und die Anzahl der Förderungen derartiger Citizen-Science-Projekte steigt eher mäßig.5 Ein Grund hierfür könnte in den spezifischen Herausforderungen von geisteswissenschaftlichen Citizen-Science-Projekten liegen, mit denen auch Gruß & Kuss zu kämpfen hatte, z.B. die Sicherstellung wissenschaftlicher Datenqualität und der Umgang mit technischen Hürden6, worüber auch die Gruß & Kuss-Mitarbeiterinnen in ihrem Vortrag auf der Abschlusstagung berichteten. Mit der in der Forschungsliteratur angerissenen Problematik, Bürgerwissenschaftler*innen für die Projekte zu akquirieren, hatte das Gruß & Kuss-Projekt eher weniger Schwierigkeiten, was nicht zuletzt am Untersuchungsgegenstand selbst liegt sowie der Vielzahl an Medienberichten über das Liebesbriefarchiv, wodurch viele Bürger*innen auf das Projekt aufmerksam wurden. Zwei der Gruß & Kuss-Bürgerwissenschaftler*innen  nahmen an der Panel-Diskussion teil und vertraten stellvertretend zahlreiche weitere Bürgerwissenschaftler*innen aus Darmstadt und Koblenz.

Gruß & Kuss: Eröffnung der Panel-Diskussion

Moderiert wurde die Diskussion von Dr. Aglaia Schieke von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, die seit 2022 Koordinatorin der WissKomm Academy ist. Die Teilnehmer*innen der Diskussion setzten sich zusammen aus Wissenschaftler*innen, Gruß & Kuss-Bürgerwissenschaftler*innen aus Koblenz und Darmstadt und mitarbeitenden Studierenden: Prof. Dr. Andrea Rapp, Projektleiterin des Gruß & Kuss-Projekts an der TU Darmstadt, Dr. Inka Engel, Referentin für Transfer an der Universität Koblenz und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Citizen-Science-Projekt BEFEM7, Marc Gräf, Praktikant im Liebesbriefarchiv und studentische Hilfskraft im Projekt Gruß & Kuss, Nadine Völkl, Studentin an der TU Darmstadt und Darmstädter Bürgerwissenschaftlerin, und Madeleine Hamm, Koblenzer Bürgerwissenschaftlerin.

Liebesbriefe und Citizen Science

Nach einer Begrüßung sowie Vorstellung der Teilnehmer*innen begann Frau Schieke mit der Frage an die Gruß & Kuss-Projektleiterin Frau Rapp, wie es zu einer Kooperation mit dem Liebesbriefarchiv und dessen Gründerin, Prof. Dr. Eva Lia Wyss (Universität Koblenz), zu einem Citizen-Science-Projekt kam. 

Prof. Dr. Andrea Rapp (TU Darmstadt, Gruß & Kuss-Verbundkoordinatorin). CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Das Projekt Liebesbriefarchiv lebt seit jeher von dem Kontakt mit Bürger*innen, man wollte aber mehr mit Bürger*innen über die Briefspendenkommunikation hinaus sprechen und gemeinsam weiter an den Liebesbriefen arbeiten. Daher erschien eine Professionalisierung in Richtung Citizen Science naheliegend; die Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Jahr 2020 kam also wie gelegen. Von den damals 480 eingegangenen Bewerbungen wurden 15 Projekte ausgewählt, worunter Gruß & Kuss fällt. Die hohe Anzahl an Bewerbungen macht deutlich, dass es einen hohen Bedarf an der Förderung von Citizen-Science-Projekten gibt. Dieser Bereich muss mehr gefördert werden!

Prof. Dr. Andrea Rapp (TU Darmstadt), 7. März 2024

Gruß & Kuss-Mitwirkende

Andere Fragen richteten sich vornehmlich an die Bürgerwissenschaftlerinnen Nadine Völkel und Madeleine Hamm: Wie sind sie jeweils zum Gruß & Kuss-Projekt gekommen? Was hat sie am Projekt gereizt und bewegt, sich bei der Erforschung der Liebesbriefe zu engagieren? Wie beteiligen sie sich am Projekt? Haben sie vielleicht auch schon selbst Liebesbriefe geschrieben oder gespendet? Wie groß ist der Umfang des Einsatzes bei Ehrenamtlichen wie den Gruß & Kuss-Bürgerwissenschaftlerinnen?

Frau Völkl wurde im Rahmen ihres Studiums an der TU Darmstadt auf das Projekt aufmerksam, als sie ein projektbezogenes Seminar im Sommersemester 20228 besuchte. Für das Seminar lernte sie die Kurrent- und Sütterlinschrift und transkribierte ein komplettes Konvolut aus dem Liebesbriefarchiv aus den Jahren 1885/86. Von der Thematik begeistert, schloss sie sich dem Darmstädter Liebesbriefstammtisch an, um sich mit anderen auszutauschen und auch außerhalb universitärer Pflichten weiterbilden zu können. Dabei habe sie als angehende Master of Education auch weitere didaktische Methoden für sich mitgenommen.

Darmstädter Bürgerwissenschaftlerin Nadine Völkl. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Neben dem regelmäßigen Besuch der Stammtische investierte Völkl viel Zeit in das Transkribieren und Digitalisieren der Liebesbriefe, was aber angenehm sei, da man selbst entscheiden könne, wann man wie viel Zeit dafür aufbringen möchte.

Koblenzer Bürgerwissenschaftlerin Madeleine Hamm (l) und Panel-Moderatorin Dr. Aglaia Schieke (r.).
CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak

Frau Hamm dagegen wurde durch einen Schreibkurs in Vallendar außerhalb der Institutionen auf das Projekt aufmerksam. Von der Leidenschaft für Texte und das Schreiben angetrieben, informierte sie sich über das Projekt und ist seitdem eine regelmäßige Teilnehmerin des Koblenzer Liebesbriefstammtisches. Auch für sie ließ sich die Mitarbeit im Projekt problemlos in den Alltag integrieren, denn alle Beteiligungsmöglichkeiten können freiwillig, unverbindlich und unabhängig voneinander genutzt werden. Eigene Liebesbriefe habe sie zwar noch nicht gespendet, fragte sich aber, ob vielleicht auch ihre Briefe in Zukunft eine Rolle für die Wissenschaft spielen könnten.

Ganz anders dagegen ist die Beteiligung des Koblenzer Studenten und Liebesbriefarchiv-Praktikanten Marc Gräf. Durch seine Praktikumsarbeit konnte Herr Gräf auch bei Gruß & Kuss mitwirken und betont:

Liebesbriefarchiv-Praktitant und Koblenzer Student Marc Gräf. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak

Damit so ein Projekt überhaupt gelingt, muss viel geleistet werden. Im Hintergrund passiert so viel mehr, als man von außen sieht: Die ganzen Prozesse und Abläufe hinter den Kulissen des Archivs und des Projekts – die nicht sichtbare Arbeit – es ist wichtig, das zu würdigen!

Marc Gräf (Universität Koblenz), 7. März 2024

Panel-Moderatorin Schieke griff diesen Punkt auf und betonte die dahinter liegende Aufforderung an die Politik. Projekten wie Gruß & Kuss könne man nicht immer ansehen, wie viel Arbeit hinter den Kulissen tatsächlich anfalle. Schieke fragte daraufhin Frau Engel, ob es etwas gibt, das man nur durch Citizen Science erreichen könne?

Mit Citizen Science erreiche man die Gesellschaft, die die Wissenschaft sonst nicht adressiere, so Engel. Die Ideen der Wissenschaftler*innen blieben im ‘Elfenbeinturm’, wenn sie nicht mithilfe von Wissenschaftskommunikation aufbereitet würden. Die Arbeit in Archiven basiere z.B. auch auf der Mitarbeit von Bürger*innen, daher sei es schwierig zu sagen, was nur mit und was ohne Citizen Science machbar ist. Frau Rapp fügte hinzu, dass nur so die Gesellschaft auf eine partizipative Weise erreicht werden könne. Citizen Science und die beteiligten Menschen sollten ernst genommen und die Definition von Liebesbriefen müsse an Spender*innen angepasst werden. Citizen Science solle um ihrer selbst willen durchgeführt werden, nicht zwingend nur deshalb, um Daten zu bekommen.

Um dies auch gewinnbringend nutzen zu können, müsse daran gekoppelt Lehre und Forschung in einen Kreislauf geraten, so Engel.

Chancen und Herausforderung von geisteswissenschaftlichen Citizen-Science-Projekten

Die nächste Frage richtete sich genauer auf die Herausforderungen von Citizen Science in den Geisteswissenschaften. Moderatorin Schieke wies darauf hin, dass Frau Engel auch Koordinatorin des aktuell laufenden geisteswissenschaftlichen Projektes BEFEM sei. Was sind Frau Engels Einschätzungen zu den Chancen von Citizen Science in den Geisteswissenschaften? 

Solche Projekte sollten nicht rein geisteswissenschaftlich, sondern interdisziplinär gedacht werden. Da der Fokus bei den Geisteswissenschaften nicht auf der reinen Auswertung liegt, bietet Citizen Science bessere Chancen hinsichtlich Themen, die die Gesellschaft bewegen, wie das z.B. bei BEFEM der Fall ist.

Dr. Inka Engel (Universität Koblenz), 7. März 2024
Referentin für Transfer Dr. Inka Engel der Universität Koblenz (BEFEM). CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Schieke konstatierte, dass es bei den Geisteswissenschaften um mehr ginge, als nur darum, Daten zu sammeln: Man sei näher an den Menschen dran. Frau Engel betonte den wichtigen Aspekt der Demokratieförderung durch Citizen Science. Forschungsfragen sollen von der Gesellschaft aufgeworfen werden. Schieke warf ein, dass die Herausforderung vor allem darin bestehe, nicht zu emotional und zu persönlich in das Thema einbezogen zu werden, sodass wissenschaftliche Methoden auch bewahrt würden.

Die nächste Frage richtete sich wieder an Gruß & Kuss-Projektleiterin Rapp: Vor welchen Herausforderungen steht man, wenn man Citizen Science in den Geisteswissenschaften betreiben will?

Mit nun dreijähriger Citizen-Science-Projekterfahrung betont Rapp:

Eine große Herausforderung ist der Umgang mit Ressourcen. Der Transfer ist nicht so stark wie z.B. die Lehre oder die Betreuung von Studierenden in den Aufgabenbereich der Lehrenden eingebunden. Die Arbeit im Bereich Citizen Science benötigt großen Aufwand und Ressourcen und kann ohne Förderung nicht im bisherigen Umfang weitergeführt werden. Die Ressourcen für das Ehrenamt fehlen oft. Die Arbeit an Liebesbriefen erfordert Zeit, denn eine kurze Beschäftigung damit bringt keinen Gewinn. Der Ertrag ist zwar gut, aber der Einsatz für Citizen Science im Liebesbriefarchiv ist ebenfalls hoch. Citizen Science fällt nicht vom Himmel, wie die Politik sich das wünscht. Lehrende müssen aus dem wissenschaftlichem Trott herauskommen und erst herausfinden, was Bürger*innen an Geräten, Möglichkeiten und Erfahrungen mitbringen und die Lernprozesse anpassen.

Prof. Dr. Andrea Rapp (TU Darmstadt), 7. März 2024

Diskussion mit dem Publikum

Nach den Fragen an die Panel-Teilnehmer*innen war das Publikum aufgefordert, Gedanken, Ergänzungen und Erfahrungen zum Diskussionsthema einzubringen und auch weitere Fragen zu stellen.

Lutz Mouton berichtete aus seiner Perspektive als Koblenzer Bürgerwissenschaftler: Es benötige einen hohen Zeitaufwand, Einsendungen in ein vernünftiges Format zu bringen. Er selbst sei aufgrund seines Interesses an kulturhistorischen Themen bei Gruß & Kuss besonders spannend sei, was sich aus Ego-Dokumenten wie privaten Liebesbriefen über das zwischenmenschliche Zusammensein vergangener Zeiten herauslesen lasse. Im Projekt sehe er als ausgebildeter Ingenieur mal etwas anderes, eine willkommene Abwechslung. Er übte jedoch auch Kritik, vorrangig an der im Projekt genutzten Transkriptions-Software Transkribus lite, die durch häufige Updates und Veränderungen der Nutzer*innenoberfläche das Transkribieren der Liebesbriefe erschwerte.

Koblenzer Bürgerwissenschaftler Lutz Mouton. CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Abgesehen davon betonte Herr Mouton, wie viel Spaß ihm das Projekt und die Liebesbriefstammtische bereitet haben, obwohl – oder vielleicht gerade – weil sie für ihn komplettes Neuland darstellten.

Rapp stimmte Mouton in der Kritik zur Transkriptionssoftware zu und erklärte, dass auf die Schnelle kein eigenes Programm erarbeitet und aufgebaut werden konnte,  weshalb auf ein vorhandenes Tool zurückgegriffen werden musste. Die Love Coding App, die am 2. Tagungstag vorgestellt werden sollte, wurde von Mitarbeitenden des Gruß & Kuss-Projekts der Hochschule Darmstadt weiterentwickelt und solle auch langfristig mehr Stabilität bieten.

Dr. Hans-Otto Hügel, emeritierter Professor für Populäre Kultur an der Universität Hildesheim, stellte die Frage: “Wenn es doch schon kaum Erfolg mit der Weitergabe des Kanonisierten gibt, bedeutet dann nicht Weitergabe des Nicht-Kanonisierten eine Überforderung? Welche Strukturen zur Unterstützung wären denkbar? Soll ‘alles’ erfasst werden?”

em. Prof. Dr. Hans-Otto Hügel (Universität Hildesheim). CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Beantwortet wurde die Frage von Projektleiterin Rapp: 

Auch der Kanon fällt nicht vom Himmel: Wir legen ihn fest, er ist flexibel, für verschiedene Menschen sind verschiedene Inhalte wichtig. Außerdem handelt es sich beim Kanon um eine Macht- und Ressourcenfrage: Was kanonisiert eine Gesellschaft, was nicht? Wir werden, auch wenn es schmerzhaft ist, nicht alles erhalten können. Es benötigt einen gemeinsamen Austausch darüber, was wir für erhaltenswert halten. Wir müssen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Menschen, z.B. im Schreiben von Liebesbriefen, gesellschaftlich feststellen und diskutieren. Allein die Forschung wie die des Liebesbriefarchivs ist schon ein Weg, Inhalte aus der Marginalisierung zu heben.

Prof. Dr. Andrea Rapp (TU Darmstadt), 7. März 2024

Eine digital teilnehmende Person fragte über den Zoom Chat, was Citizen Science im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen leisten könne und was Gesellschaft im Wechselspiel mit Wissenschaft sei?

Rapp beantwortete diese Frage damit, dass Wissenschaft nicht losgelöst von der Gesellschaft sei, da auch Wissenschaftler*innen nur Menschen seien Auch die Wissenschaft müsse sich trotz eines bestimmten Habitus und Jargons von Wissenschaftler*innen untereinander als Teil der Gesellschaft sehen. Aktuell sei das Vertrauen in die Wissenschaft gefährdet, daher stelle sich dabei auch die Frage, wie Wissenschaftler*innen Vertrauen erreichen können. Ihrer Meinung nach sei Vertrauen nur im Dialog erreichbar.

Engel betonte erneut, dass Bürger*innenbeteiligung im Bereich der Forschung Emanzipation bewirke und befeuerte die Hoffnung auf die Förderung des öffentlichen Engagements – und damit auch auf Förderung der Demokratie.

Die Koblenzer Bürgerwissenschaftlerin Elke Vogel fragte: “Sind Citizen-Science-Projekte in den Geisteswissenschaften vielleicht nicht zwingend als solche erkennbar?”
Vogel betonte, sie wünsche sich beispielsweise die Verknüpfung zwischen dem Liebesbriefarchiv und anderen Archiven, um deutlich zu machen, dass es mehr solcher Projekte gibt. Citizen Science könne nicht da politisch wirksam werden, wo es wirksam werden müsste. Die, die erreicht werden müssten, nämlich Entscheidungsträger*innen auf politischer Ebene, tauchen hier nicht auf und sie habe keine Idee, wie man das ändern könne.

Engel wies auf die Plattform mit:forschen9 hin, auf der man verschiedene Citizen-Science-Projekte findet. Marginalisierte Gruppen und solche, über die hier gesprochen werden, seien nicht leicht erreichbar, trotzdem sollten aber Projekte, die genau solche Gruppen z.B. in Schulen zu erreichen versuchen, fördern und darüber Demokratieförderung umsetzen.
Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl (Universität Trier) äußerte sich ergänzend zu Fragen wie “Was ist kulturelles Erbe?” und “Wie können wir Citizen Science umsetzen?”

Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl (Universität Trier). CC-BY-SA Liebesbriefarchiv/Debby Trzeciak.

Als Wissenschafterin mit internationalen Forschungsschwerpunkten wies sie darauf hin, dass die hier geführten Diskussionen sehr stark deutsch konnotiert seien. Kulturelles Erbe werde in Deutschland oft im Sinne eines anspruchsvollen Kulturverständnisses verstanden. In den USA werde der Begriff des kulturellen Erbes weiter gefasst und daher auch der der Bürgerwissenschaften; community engagement als Teil der Ausbildung sei etwas stärker ausgeprägt. Daraus leitete Lehmkuhl ab, dass am Verständnis von Wissenschaft und Kultur in Deutschland gearbeitet und dieses demokratisiert werden müsse.


Panel-Moderatorin Schieke schloss die Diskussionsrunde mit der Hervorhebung, dass sie an den Diskussionen und den heute anwesenden Bürgerwissenschaftler*innen sehe, wie wichtig die Anbindung der Citizen Science an das universitäre Geschehen sei.
Mit großem Dank an die Panel-Teilnehmenden und die aufschlussreichen Beiträge durch das Publikum beendet Dr. Aglaia Schieke die Runde und lud zu weiterführenden Gesprächen rund um Citizen Science und die Liebesbriefforschung beim anschließenden Welcome Cocktail ein.

Fazit

Die Panel-Diskussion zeigte, wie intensiv und ressourcenreich (geisteswissenschaftliche) Citizen-Science-Projekte sind und welchen Mehrwert sie für die Gesellschaft bieten; oft fehlt es aber noch an Verständnis für die Komplexität und Relevanz geisteswissenschaftlicher Forschung für die Gesellschaft. Gruß & Kuss zeigt nicht nur das immense Interesse am marginalisierten Kulturerbe, sondern auch, wie wichtig die Identifikation mit Wissenschaft und Forschung für Bürger*innen ist; der Elfenbeinturm muss seine Fenster und Türen öffnen, die Gesellschaft in Verständnis und Vertrauen in Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit bestärken und zum gemeinsamen Austausch einladen. 


Mehr über die Projektergebnisse und -erkenntnisse sowie Inhalte zu den wissenschaftlichen Beiträgen können Sie im Nachbericht zur Gruß & Kuss-Abschlusstagung nachlesen! 

  1. Bonn, Aletta/Brink, Wiebke/Hecker, Susanne/Herrmann, Thora M./Liedtke, Christin/Premke-Kraus, Matthias/Voigt-Heucke, Silke et al. (2022): Weißbuch Citizen Science Strategie 2030 Für Deutschland. Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Universitären und außeruniversitären Einrichtungen, Leipzig, Berlin. SocArXiv. DOI: https://doi.org/10.31235/osf.io/ew4uk, S. 11. ↩︎
  2. Citizen Science – BMBF [17.06.2024]. ↩︎
  3. Andere geistes- und sozialwissenschaftlichen Citizen-Science-Projekte: Social Media History – Geschichte auf Instagram und TikTok, GINGER – Gemeinsam Gesellschaft erforschen und MigOst – Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen: Bürgerschaftliche Geschichtswerkstätten als Produktionsorte für Stadtgeschichten. ↩︎
  4. Vgl. Göbel, Claudia/Henke, Justus/Mauermeister, Sylvia/Pasternack, Peer (2022): Citizen Science: Laien-Partizipation an Forschung. In: Pasternack, Peer (Hg.): Wissenschaftskommunikation, neu sortiert. Eine Systematisierung der externen Kommunikation der Wissenschaft. Wiesbaden: Springer, S. 195–204. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39177-5, hier: S. 200. ↩︎
  5.  Vgl. dazu Heinisch, Barbara (2019): Vorherrschende Wissenschaftszweige auf deutsch- und englischsprachigen Citizen Science-Projektplattformen. In: Bartoschek, Thomas/Nüst, Daniel/Pesch, Mario (Hg.): Forum Citizen Science 2019. Die Zukunft der Bürgerforschung, Institut für Geoinformation, Münster, S. 40–52. DOI: https://doi.org/10.17605/OSF.IO/67WXN, vgl. Göbel/Henke/Mauermeister/Pasternack (2022), S. 200 und vgl. Bonn/Brink/Hecker/Herrmann/Liedtke/Premke-Kraus/Voigt-Heucke et al. (2022): Weißbuch Citizen-Science-Strategie 2030 für Deutschland, S. 12 u. 20. ↩︎
  6. Vgl. Göbel/Henke/Mauermeister/Pasternack (2022), S. 203f. ↩︎
  7.  Das Projekt beschäftigt sich mit der Erforschung der Familiengeschichte von Einheimischen und Migrant*innen und ihr Verhältnis zur NS-Geschichte. ↩︎
  8. Proseminar “Projekt ‘Gruß und Kuss’: Liebesbriefe und ihre Digitalisierung”, Sommersemester 2022, TU Darmstadt. ↩︎
  9. Vormals Bürger schaffen Wissen. ↩︎

[Ediert am 17.06.2024]


Diesen Blogbeitrag zitieren:
Dietz, Nadine/Dunkelmann, Lena, unter Mitarbeit von Gräf, Marc/Hoffmann, Katharina/Seibert, Carla: Panel-Diskussion. Citizen Science in den Geisteswissenschaften – Chancen und Herausforderungen. In: Liebesbriefarchiv-Blog, 17.06.2024. https://liebesbriefarchiv.de/2024/06/17/panel-diskussion-citizen-science-in-den-geisteswissenschaften-chancen-und-herausforderungen/ (Datum Ihres letzten Zugriffs).

Kategorien: Gruß & Kuss